Ein Gespräch über Wahrheiten und Mehrheiten mit Dr. Gegor Gysi

Herr Dr. Gysi, sie sind Jurist, Moderator, Autor und Politiker.

Das stimmt. Mit 75 Jahren reichen doch vier Berufe, oder?

Vollkommen! Wie schwer fällt es Ihnen, in Ihren unterschiedlichen Rollen authentisch im Sinne von Wahrhaftig zu sein?

Mit 16 hatte ich ein seltenes Erlebnis. Da wollte ein Mädchen mehr von mir wissen, als ich von ihr – sonst war es immer umgekehrt. Und weil ich keine Lust zu irgendwas hatte, was sie mir vorschlug, habe ich gelogen. Das hatte ich natürlich am nächsten Morgen vergessen und flog auf. Da habe ich mir gesagt: „Gysi, wer lügt, muss sich seine Lügen merken können. Wenn du das nicht kannst, lass es bleiben.“ Und seitdem versuche ich tatsächlich – so weit es geht –, Lügen zu vermeiden.

Im Gespräch mit Dr. Gregor Gysi

Das hat einen Vorteil: Ich kann schneller reagieren und muss nicht – wie viele andere Politikerinnen und Politiker – überlegen, wie gerade die Beschlusslage ist. Ich sage fast immer das, was ich auch wirklich meine.

Ihr Buch Was Politiker nicht sagen untertitelt, dass es dem Politiker nur um Mehrheiten ginge, nicht aber um Wahrheiten. Sollte Wahrhaftigkeit – also der Wunsch, die Wahrheit zu sagen – nicht eine Grundtugend für Politiker:innen sein?

Die Demokratie hat viele Vorteile und ein paar Nachteile. Ein Nachteil ist, dass man Mehrheiten erreichen muss. Und es gibt Wahrheiten, mit denen nicht so ohne Weiteres die Mehrheit erreicht werden kann. Ich sage Ihnen ein Beispiel: 1990 hatten wir einen Bundestagswahlkampf. Helmut Kohl wollte gerne für die Union Kanzler bleiben, und Oskar Lafontaine für die SPD Kanzler werden. Oskar Lafontaine sagte, dass die Einheit sehr teuer werde, während Helmut Kohl postulierte, es würden blühende Landschaften entstehen. Zwei Fragen: Erstens, wer hatte recht? Und zweitens, wer hat die Wahl gewonnen?

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