Reporter-at-large beim SPIEGEL Ullrich Fichtner über Zuversicht 

Es herrscht allgemein das Gefühl vor, dass die Welt aus den Fugen geraten ist: Klimakrise, Pandemien, neu aufflammende Kriege, Energiekrise, Populismus von rechts und links, Inflation, die Allmacht amerikanischer Medienkonzerne. Nun kommen Sie, Herr Fichtner, und sagen: Moment mal, früher war alles schlechter. Wie kommen Sie darauf?

Eckard Christiani und SPIEGEL-Reporter-at-large Ullrich Fichtner

Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob früher alles schlechter war. In den großen Linien sicherlich. Aber genau jetzt, während wir sprechen, scheinen sich die Krisen zu häufen, und das allgemeine Zeitgefühl vermittelt den Eindruck, dass die Welt „im Eimer ist“. Doch genau das war der Anstoß für mein Buch. Ich glaube, wenn man einen Schritt zurücktritt – einen kleinen Schritt – entspannt sich die Lage schon etwas. Und wenn man noch weiter zurücktritt, entspannt sie sich sogar noch mehr. Das ist kein neuer Gedanke; es gab schon Autoren, die brillant darüber geschrieben haben, wie etwa der berühmte Hans Rosling, ein schwedischer Arzt, der für die UNO gearbeitet hat. Sein Buch Factfulness verfolgt im Grunde diesen Denkansatz und ist äußerst lesenswert. Was hat er gemacht? Er hat sich praktisch von der Aktualität gelöst und lange Linien betrachtet – als Mediziner vor allem unter gesundheitlichen Aspekten. Er stellte fest, dass die Menschheit sich in einer faszinierenden Aufwärtsbewegung befindet, auch in ihren ärmsten Teilen. Diese Art des Perspektivwechsels ist sehr hilfreich, um den Kopf klar zu behalten in Momenten, in denen alle Krisen auf einen einzustürzen scheinen. Es geht darum, die Lage zu analysieren und Schritt für Schritt vorzugehen.

Wie kann man dem Menschen Positives abgewinnen, wenn er drei Viertel der bewohnbaren Erdoberfläche „überformt“ und dabei Raubbau an der Natur betreibt?

Wann gelangte CO2 in die Atmosphäre? Die eine Hälfte bis 1990 und die andere Hälfte. Wir dachten oft, dass wir auf einem guten Weg wären. Weit gefehlt. Tatsächlich haben wir in den letzten 30 Jahren in Sachen Verschmutzung noch einmal so richtig Gas gegeben. Das ist eine unglaubliche Dummheit, die wir teuer bezahlen werden. Während Experten seit 1990 ein allgemeines Bewusstsein vermuten, realisiert unsere moderne Gesellschaft – auch hier in Europa – erst seit wenigen Jahren, was wirklich vor sich geht. Das ist positiv!

Was macht sie zuversichtlich, dass der Mensch es schafft, seine Irrtümer zu korrigieren? 

Mich macht die Entwicklung der Menschheit zuversichtlich. Neulich hat Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, in einem
Spiegel-Interview gesagt, dass die Menschen keine Lemminge sind. Die Geschichte zeige, dass in Momenten, wo es wirklich „kurz vor knapp“ steht, die Menschen umsteuern und Lösungen für Probleme finden, die vorher als unlösbar galten. Und ich glaube, dass wir jetzt wieder an diesem Punkt stehen. Die Zuversicht ist letztlich ein Produkt aus historischen Erfahrungen, die wir mit Problemlagen gemacht haben.

Also sagen sie, die Menschheit ist im kleinen und im großen schon auf dem richtigen Weg?

Ich vertrete zwei große Thesen. Erstens, ein neues Verständnis von dem Begriff Anthropozän – ein neues Erdzeitalter, das die massive Beeinflussung der Natur durch den Menschen benennt. Ob offiziell oder nicht, wir erkennen unsere Macht und Verantwortung. Das ist die eine Quelle meiner Zuversicht – die Möglichkeit, unseren Einfluss aktiv zu verstehen und letztlich zum Rettungsplan zu machen.

Zweitens, ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaft, der zufällig mit sprunghaften Fortschritten zusammenfällt. In Bereichen wie Computerwissenschaften und Biotechnologie betreten wir völlig neue Felder, die früher undenkbar waren. Neue industrielle Revolutionen stehen bevor, die zwangsläufig nachhaltig sein werden, weil wir es von Anfang an mitdenken.

Sie schreiben, das Energieproblem sei gelöst. erzählen sie Mehr.

Ein klassisches Beispiel ist das Heizungsgesetz letztes Jahr in Deutschland – einerseits ein Zeichen für schlechte Politik, da es nicht ordentlich erklärt und falschrum vermittelt wurde. Die Energiefrage sieht jedoch vielversprechend aus, da Fortschritte auf allen Gebieten wie Wind und Sonne extrem schnell
voranschreiten. Kapitalismus zeigt sich hier fast bilderbuchartig: Vor 20 Jahren dachte man, Sonnen- und Windenergie seien teuer und ineffizient. Heute sind sie die billigsten Energieformen. China ist ein Weltmeister im CO2-Ausstoß, aber auch in Sachen erneuerbarer Energien. Die Verbilligung dieser Energieformen führt zu besseren Energiebilanzen und eröffnet neue Möglichkeiten wie kinetische Energie aus Wasser. Windenergieanlagen werden immer effizienter und größer, manche könnten sogar die Energie von 150 Atomkraftwerken liefern. Es gibt einen großen Optimismus bei Forschern und Erfindern – auch bei der Kernfusion –, dem ich mich nicht entziehen kann. 

Wie sieht die Lebenswirklichkeit eines heute geborenen Kindes in Zukunft aus? 

In dieser neuen Ära, in der wir uns befinden, stehen wir vor drei großen Revolutionen: Die rasante Entwicklung der Computerwissenschaften, künstlichen Intelligenz und neuronalen Netze ermöglicht eine völlig neue Art der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine. Die Verbilligung erneuerbarer Energien wie Wind und Sonne eröffnet neue industrielle Möglichkeiten und verbessert unsere Energiebilanzen. Zudem verändert die Nutzung dieser Technologien in der Bildbearbeitung und Filmindustrie grundlegend unsere Arbeitsweisen. Doch mit diesen Veränderungen geht auch eine gewisse Angst einher, insbesondere vor den möglichen negativen Auswirkungen von Deepfakes und gefälschten Videos. Dennoch werden diese Entwicklungen in gesellschaftliche Diskussionen eingebettet sein – begleitet von Sanktionen bei Missbrauch. Wir haben historische Präzedenzfälle, die zeigen, dass auch große Unternehmen enteignet wurden, wenn sie zu mächtig wurden und sich nicht an Regeln hielten.

Ullrich Fichtner,
Geboren für die großen Chancen.
Über die Welt, die unsere Kinder
und uns in Zukunft erwartet.
Erschien 10.2023 im Verlag DVA,
SPIEGEL Buchverlag, 320 Seiten, 24,– €

Vielleicht muss sich auch unser Wohlstandsbegriff ändern? 

Ganz sicher! Unser heutiges Verständnis von Wohlstand und Konsum ist nicht optimal, aber wir erkennen zunehmend die Notwendigkeit, unsere Gewohnheiten zu überdenken. Es gibt noch viel zu tun, aber ich bin zuversichtlich, dass wir in eine Zukunft gehen, in der nachhaltige Praktiken und ein verantwortungsbewusster Umgang mit Ressourcen die Norm sein werden.

Das Gespräch erschien in der 14. Ausgabe des Magazins Passion.