Ein Beitrag von Hans Block und Moritz Riesewieck für die Passion #8, dem Kundenmagazin von BerlinDruck

Es ist eine der ältesten Fragen der Menschheit: Was geschieht mit uns nach dem Tod? Jahrhundertelang war die Antwort auf diese Frage für die meisten Menschen im Abendland klar. Die Seelen fahren zu Gott in den Himmel auf oder schmoren in der Hölle. Doch wie aktuelle Studien zeigen, glauben immer weniger Menschen in Westeuropa an Gott und das ewige Leben im Jenseits, nur noch eine Minderheit betrach-tet sich selbst als religiös. Andererseits glaubt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung: „Es gibt KEIN Leben nach dem Tod.”

Illustration: Julia Ochsenhirt

Offenbar können nur wenige Menschen ohne Aussicht auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod auskommen. Noch fehlt eine neue (weltliche) Heilserzählung. Noch ist es nicht gelungen, den Sinn-Verlust auszugleichen, der für Milliarden von Menschen mit der Abwendung von der Religion entstanden ist. Es klafft eine gewaltige Lücke, was auch den Technologie-Unternehmen nicht entgangen ist, die die Leerstelle als Chance für die nächste große Geschäftsidee begrei-fen. In Aussicht stehen Milliarden potenzieller Kund*innen, die offen sind für eine neue zeitgemäße Botschaft, die sie von der Unausweichlichkeit des Todes erlöst. Im Windschatten der digitalen Revolution treten Start-ups aus der ganzen Welt in einen Wettlauf um einen gewaltigen Markt – den Markt der digitalen Unsterblichkeit.

Seit fünfzehn Jahren kommunizieren Menschen rund um die Uhr über Social Media- und Messenger-Dienste. Wir offenbaren in WhatsApp-Konversationen all die unterschiedlichen Facetten unseres Charakters, wir übermitteln unseren Smartphones tägliche Bewusstseinsströme. Von Shenzhen in China über Iaşi in Rumänien bis nach Pasadena in den USA arbeiten Entwickler*innen weltweit daran, aus solchen intimen Daten nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen auszulesen, sondern die Muster unseres Verhaltens mithilfe Künstlicher Intelligenz zu imitieren. Ihr Ziel: unsere Persönlichkeiten über den Tod hinaus am Leben zu erhalten. Was wie das Skript eines Science-Fiction-Films klingt, ist längst auf dem Weg, Realität zu werden. Doch was steckt hinter solchen fragwürdigen Angeboten? Wie genau funktioniert diese Technologie? Was sind es für Personen, die alles daransetzen, digital unsterblich zu werden? Und wie ergeht es denen, die versuchen, ihre Liebsten wiederauferstehen zu lassen – als digitale Klone?

Um diese Fragen zu erkunden, sind wir um die halbe Welt gereist und haben mit Pionier*innen gesprochen, die Unsterblichkeit fernab von religiösen Vorstellungen des ewigen Lebens suchen, haben diejenigen getroffen, die von digitaler Unsterblichkeit träumen und an ihrer Verwirklichung arbeiten: Menschen, die ihre verstorbenen Väter auf dem Smartphone wiederauferstehen lassen. Menschen, die seit Jahrzehnten sämtliche Facetten ihres Lebens aufzeichnen. Menschen, die leichtfertig mit der Hoffnung Hunderter Todkranker spielen, indem sie ihnen ein Leben nach dem Tod in Aussicht stellen. Menschen, die mit der Unterstützung eines gigantischen chinesischen Tech-Unternehmens virtuelle Doppelgänger von sich oder anderen erzeugen. Gesprochen haben wir auch mit Expert*innen führender Hirnforschungszentren der Welt, die daran glauben, dass neuromorphe Computerchips künstliches Bewusstsein erzeugen können, oder Programmierer*innen, die uns Einblicke in die Arbeit künstlicher neuronaler Netze erlauben und uns anschaulich machen, wie synthetische Wesen erschaffen werden können. Wir erzählen von unseren Begegnungen mit Träumer*innen und Macher*innen, Verzweifelten und Euphorischen, Wagemutigen und solchen, die sich vor den Auswirkungen dieses epochalen Wandels fürchten. Mal führt uns unsere Reise an entlegene Orte, mal ins Innere des Menschen, wo wir erkunden, was uns zu den Menschen macht, die wir sind. …

Seit ihrem Anbeginn träumt die Menschheit davon, dem Tod zu entkommen. Die Kulturgeschichte ist voller Erzählungen, in denen der Mensch seine Sehnsucht nach der Unvergänglichkeit zum Ausdruck bringt. Zeit seines Lebens kann er sich nicht damit abfinden, eines Tages zu vergehen. Doch während alle Bestrebungen, den Körper eines Menschen vor dem Tod zu bewahren – sei es durch Konservieren und Einfrieren oder die Pille gegen das Altern –, auch heute noch zum Scheitern verurteilt sind, scheint das detailgetreue digitale Klonen seines Wesens, seiner Art zu sprechen und zu handeln, ja vielleicht sogar seiner Art zu denken in diesen Tagen zum Greifen nah.

Im Februar 2013 erschien eine Episode der Science-Fiction-Serie Black Mirror mit dem Titel „Be right back”, zu Deutsch „Wiedergänger”. Der Plot der Serie eröffnet ein fesselndes Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, es wäre uns möglich, mit einer längst verstorbenen Person in Kontakt zu treten. Stellen wir uns vor, eine zukünftige Technologie würde es den Menschen ermöglichen, Tote wieder zum Leben zu erwecken, erst auf den Bildschirmen unserer Computer und Smartphones, dann in Fleisch und Blut. Die junge Frau Martha erlebt die Wiederauferstehung ihres verstorbenen Partners Ash. Inmitten des Trauerns über ihren Lebensgefährten erfährt Martha von einem Angebot, das verspricht, mithilfe der unzähligen gesammelten Daten, die Ash im Laufe seines Leben im Netz hinterlassen hat, ihren Liebsten digital wiederauferstehen zu lassen.

Was noch vor wenigen Jahren als reine Fiktion wahrgenommen wurde, wird in diesen Tagen Realität. Im Februar 2020 schauten mehr als 18  Millionen Menschen auf You-Tube das neunminütige Video einer südkoreanischen Mutter, die zum ersten Mal ihre Tochter wiedersieht, nachdem das Mädchen mehr als drei Jahre zuvor verstorben ist. Dieses Mal handelt es sich nicht um einen Spielfilm. Der südkoreanische Fernsehsender MBC hat den Ausschnitt seiner Dokumentation ins Netz gestellt und weltweit sehr viel Mitgefühl, aber auch Bestürzung über das gewagte Experiment ausgelöst. Die Begegnung von Jang Ji-sung mit ihrer toten Tochter findet in einem Park statt. Jang geht alleine den Weg entlang, den sie so oft mit ihrer kleinen Tochter gegangen ist. Die Frau hört, wie eine Stimme ein Lied singt, das sie ihr einmal beigebracht hat: Es ist die Stimme von Nayeon, ihrer Tochter. Hinter einem Holzhaufen springt das sieben-jährige Mädchen auf und läuft auf seine Mutter zu: „Mama, wo bist du gewesen?”, fragt das Kind. Die Mutter bricht in Tränen aus. Sie will ihre Tochter berühren, aber sie greift ins Leere. Denn das Mädchen, das dort unmittelbar vor ihr steht und das doch eindeutig ihr Kind ist – das aufgeweckte, neugierige Gesicht, die schulterlangen schwarzen Haare mit dem Haarreif, den sie ihr einmal geschenkt hat, im violetten Kleid, das sie so gerne getragen hat  –, das Mädchen, das mit der unverkennbaren Stimme ihrer Tochter Nayeon in diesem Moment fragt, ob Jang Ji-sung an sie gedacht habe, ist nur eine Simulation, ein Avatar ihrer Tochter, wenn auch nahezu perfekt. Und Jang weiß das. Schließlich steht sie in einem Green-Screen-Studio und trägt eine VR-Brille und Handschuhe, die ihre Bewegungen übertragen. Aber Jang will nicht wissen, dass das alles hier bloß virtuelle Realität ist. Sie ist hier, um ihre Tochter wiederzubekommen, wenn auch nur für eine halbe Stunde. Immer wieder versucht die Frau, nach der Schulter ihrer Tochter zu greifen, sie in den Arm zu nehmen. Jangs Mann sitzt ein paar Meter weiter bei ihren anderen beiden kleinen Töchtern und einem wenig älteren Bruder. Hilflos sieht der Mann zu, wie seine Frau durch das Studio geistert. „Ich will dich berühren, nur einmal”, sagt sie schluchzend zu ihrem toten Kind, das sie zum Greifen nah vor sich stehen sieht. Ihrem Mann zerreißt der Anblick fast das Herz. Lange hatte das Paar gehofft, Nayeon könnte wieder gesund werden. Bei dem Mädchen war ein seltener Gendefekt diagnostiziert worden, der die Organe schädigte und schließlich zum Tod führte. In diesem Moment jedoch scheint ihre Tochter lebendiger denn je zu sein. Jang sieht sie zu einem Bett gehen, das auf der Wiese steht, umgeben von Dingen, die Nayeon zu Lebzeiten geliebt hat: einem leuchtenden Hasen, einem aufblasbaren Donut mit bunten Streuseln. Nayeon fragt: „Mama, wir werden immer zusammenbleiben, ja? Ich werde mich für immer an dich erinnern, ja?” Zusammenbleiben? Oder für immer erinnern? So ganz genau scheint Nayeon noch nicht zu wissen, wie es für sie und ihre Mutter nach dieser virtuellen Wiederbegegnung weitergehen soll. Jang hockt sich neben das Bett ihrer Tochter, wie sie es wohl zu Lebzeiten so oft gemacht hat, wann immer Nayeon nicht schlafen konnte oder Albträume hatte. „Mama liebt dich so sehr, Nayeon. Wo auch immer du bist, ich werde nach dir Ausschau halten. Ich habe noch Dinge zu tun. Aber wenn ich damit fertig bin, dann werde ich mit dir sein”, sagt sie. „Dann werden wir wieder zusam-men sein. Dann wird es uns beiden gut gehen.” „Ich bin müde, Mama”, sagt Nayeon und kuschelt sich in das Kopfkissen. „Mama, bleib bei mir. Mama, auf Wiedersehen.” Ein weiß leuchtender Schmetterling kommt herangeflogen und setzt sich auf den liegenden Körper des Kindes. „Ich liebe dich, Mama”, sagt Nayeon wie im Halbschlaf. „Ich liebe dich auch”, antwortet Jang unter Tränen. Sie streckt noch einmal ihre Hand zu ihrer Tochter aus – und greift doch wieder nur ins Leere. Da breitet sich das gleißend weiße Licht aus, als hätte Jangs Versuch, ihre Tochter zu berühren, das Bild gelöscht. Als es wieder hell wird, ist ihre Tochter verschwunden. Nur der weiße Schmetterling fliegt noch herum, bevor auch er verschwindet und mit ihm alles Licht.

Acht Monate hat das Unternehmen Vive Studios aus Seoul gebraucht, um aus Video- und Tonaufnahmen der Familie die Stimme der verstorbenen Siebenjährigen zu extrahie-ren, ihr Gesicht und ihren Körper virtuell zu rekonstruieren und mit den computererfassten Bewegungen eines lebenden Kindes zu verbinden. Die Sätze, die die untote Nayeon im virtuellen Park sagt, haben andere Kinder eingesprochen. Anschließend sind diese Stimmen mit der Stimme Nayeons gemischt worden. Um die Persönlichkeit des Kindes zu erfassen, hat sich der Regisseur durch Terrabytes von Handyvideos und -fotos gearbeitet. Nayeon war 2010 geboren worden, also drei Jahre nach Erfindung des Smartphones. Sie hat in einer Zeit gelebt, in der Eltern jeden Tritt und Schritt ihrer Zöglinge aufzeichnen, zumal im technikbegeisterten Südkorea. Was aus all diesen Daten entstehen kann, dafür ist die lebensechte Simulation des koreanischen Mädchens nur ein erster unheimlicher Beweis. Was vor Jahrzehnten als Fantasie in Science Fiction und Cyberpunk seinen Anfang nahm, wird in den kommenden Jahren zunehmend unser Leben bestimmen und das „Mensch-Sein” grundlegend verändern. Wir erleben einen Tabubruch.

Was passiert, wenn dem Menschen seine letzte Gewissheit genommen wird – die Endlichkeit seines Lebens? Was bedeuten digitale Klone für das Selbstverständnis des Men-schen? Können wir es wagen, in den Kreislauf von Leben und Sterben einzugreifen und Menschen (digital) unsterblich werden zu lassen? Was bedeutet es psychologisch für Hinterbliebene, wenn sie nicht loszulassen brauchen, weil sie mit „Verstorbenen” weiterleben können? Wer hat das Recht zu bestimmen, ob Menschen digital wiederauferstehen: die Angehörigen? Die Unternehmen, die die Daten der Verstorbenen besitzen? Was bedeutet es für unsere Gesellschaften, wenn Präsidenten, die schon zu Lebzeiten unaufhörlich twittern, nicht einmal nach dem Tod die Klappe halten müssen? Wer übernimmt die Verantwortung für die digitalen Untoten, die durch das Netz geistern? Was bedeutet es für den Fortschritt, wenn uns künftig Ewiggestrige bevölkern? Und was bedeutet es für das Erinnern selbst, wenn nichts und niemand mehr verloren geht? …Vielleicht ist das alles nur der Anfang: der Anfang vom Ende unserer Endlichkeit.

Hans Block und Moritz Riesewieck, Shootingstars des internationalen Dokfilm-Kinos, Grimme-Preisträger und Experten für digitale Entwicklungsprozesse.
Text aus Die digitale Seele, (2020).
Erschienen als Hardcover mit Schutzumschlag im Goldmann Verlag, 592 Seiten, 20,00 Euro
ISBN 978-3442315413