Andri und Gieri Hinnen im Gespräch
Lieber Andri, lieber Gieri, ihr habt zusammen einen Ratgeber für unsere immer komplexer werdende Welt geschrieben. Die Medien überfluten uns mit Informationen, die gesellschaftlichen Herausforderungen werden immer vielschichtiger und drängende Umweltkatastrophen bestimmen unsere Wahrnehmung. Was war für euch der entscheidende Auslöser?
Andri: Ich wünschte, wir könnten darauf eine gut geframte, einfache Antwort geben. In Tat und Wahrheit sind die im Buch beschriebenen Einsichten aber über mehrere Jahre gewachsen. Eine zentrale Rolle hat die Tatsache gespielt, dass immer wieder der gleiche Wunsch an unsere Firma herangetragen wurde. Egal ob CEO, Professorin oder Strategieberaterin. Immer hieß es: Helfen Sie uns, die Komplexität zu reduzieren. Immer musste alles auf den DAZ zugeschnitten sein, den dümmsten anzunehmenden Zuschauer.
Und genau davor warnen Sie.
Gieri: Genau. Natürlich ist es manchmal nötig, Dinge zu vereinfachen, oder leichter zugänglich zu machen. Aber es ist so wichtig, dass man sich der damit einhergehenden Probleme, ja Gefahren, bewusst ist.
Welche sind das?
Gieri: Wenn Sie mit Modellen arbeiten, die die Realität verkürzt abbilden, geben Sie sich einer Illusion der Sicherheit hin. Gut gezeigt hat das die Finanzkrise. In den Nullerjahren wurde oft mit Modellen gearbeitet, die von einer risikoreichen, aber nicht unsicheren Welt ausgingen. Sprich: Man dachte, alle möglichen Ergebnisse zu kennen. Doch dann passierte etwas, womit so fast gar niemand gerechnet hat. Eine extrem seltene Verzahnung von Ereignissen – ein schwarzer Schwan – brachte die Welt an den Rand des ökonomischen Kollapses.
Andri: Ein Satz aus der Systemtheorie besagt: Varietät absorbiert Varietät. Man braucht eine gewisse Komplexität, um Komplexität zu begegnen. Das gilt für ein Fussballteam, das elf Menschen braucht, um elf Gegner:innen gerecht zu werden. Aber das gilt auch für eine Unternehmensstrategie, die versucht, den zu beackernden Markt abzubilden.
Gieri: Und auch für gesellschaftliche Strategien, um Klimawandel, Demokratiekrise, wachsender Ungleichheit oder Migrationströmungen zu begegnen. Natürlich wäre es schön, gäbe es für komplexe Herausforderungen immer eine einfache Lösung. Aber dieses Wunschdenken führt dann dazu, dass Trump einfach seine Mauer baut und England aus der EU austritt – und so wird alles nur noch schlimmer.
Ihr schreibt in eurem Buch, dass man komplizierte und komplexe Inhalte umgestalten und neu rahmen sollte. Was meint ihr damit?
Andri: Wir wünschen uns, dass unsere Gesellschaft sich von dem Vereinfachungs-Mindset weg und hin zu einem Reframing-Mindset entwickelt. Diesem liegt die konstruktivistische Weltsicht zu Grunde, dass wir die Welt durch ganz viele verschiedene Linsen oder eben Frames wahrnehmen. Wir sind alle gefangen in unseren Schädeln und können nur versuchen, die äußere Welt mittels einer Vielzahl von Instrumenten nachzubauen – Sinneswahrnehmungen, Sinnesverzerrungen, Geschichten, Metaphern, wissenschaftliche Modelle, Strukturen und so weiter und so fort.
Gieri: Und all diese Frames müssen wir wieder bewusster wahrnehmen, wenn wir uns der Welt in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität annähern wollen. Der Trick des Reframing-Mindsets ist eben, dass wir nicht einfach versuchen, die Welt mit einem einzelnen Modell zu vereinfachen und zu verstehen. Nein, ein Reframing-Mindset bedeutet, die Welt und ihre Abbilder immer wieder aufs Neue zu reframen, dies spielerisch und bewusst zu tun, und den Linsen-Koffer immer wieder zu ergänzen und zu überdenken.
Könnt ihr Beispiele dafür nennen, was Unternehmen bei der inhaltlichen konzeptuellen Visualisierung falsch machen und was sie besser machen könnten?
Andri: Ich glaube, vieles wird bereits richtig gemacht. Zahlreiche Unternehmen beherrschen das Wechselspiel zwischen Abstraktion und Konkretisierung, zwischen Einfachheit und Komplexität immer besser. Doch es besteht schon noch viel Potential. Ich glaube, das wichtigste ist, dass man nicht immer versucht, alles mit einer einzigen Visualisierung oder Struktur zu erklären. Es gibt ja auch nicht die eine Landkarte. Nein, es gibt eine Karte für das Wetter, eine für die Topographie, eine für die Touristenattraktionen etc. Wenn du nur einen Hammer hast, sieht alles aus wie ein Nagel.
Gieri: Es ist nicht nur wichtig, eine Vielzahl von Landkarten zur Verfügung zu stellen, sondern auch, dass alle wissen, es ist ok, wenn die Landkarten oder eben mentalen Modelle mal im Widerspruch zueinander stehen. Die HR-Abteilung betrachtet die Welt vielleicht durch die Brille eines Organigramms, Operations hat seine Prozesskarten und die Strategie-Abteilung vielleicht eine metaphorische Straße, die in die Zukunft führt. Und der Trick ist, dass all diese Karten koexistieren dürfen, ja müssen.
Andri: Es gibt ein berühmtes Zitat des Autors Fitzgerald, das besagt, wahre Intelligenz liege darin, widersprüchliche Ideen – oder eben Modelle – im Kopf zu behalten und dabei nicht wahnsinnig zu werden. Genau das ist die Herausforderung. Und wichtig ist auch, dass man diese Landkarten stets anpassen darf, mit ihnen in all ihrer Vielzahl spielen darf, dass Map und Territory sich gegenseitig beeinflussen und verändern dürfen.
Gieri: Ja, es geht, glaube ich, auch darum, dem Eifern nach Ordnung etwas zu entsagen. Es gibt einen großartigen Artikel zum Thema Strategie At the Edge of Chaos. Darin heißt es, dass an der Grenze zwischen Ordnung und Chaos, dort wo eine Vielzahl von Realitäten und Modellen aufeinanderprallen, nicht nur die Komplexität, sondern auch die Fertilität des Systems, am größten ist. Und der Trick ist, sich mit Modellen und Visualisierungen möglichst nahe an dieser Kante aufzuhalten.
Ihr habt eine Reise entworfen – frei nach dem vom Schweizer Pädagogen Pestalozzi geprägten Dreiklang Hirn, Herz, Hand –, die die Leser:innen befähigt, neu zu framen. Benötigt man alle eure 42 Tools, um zu einem klugen Ergebnis zu kommen?
Andri: Der Dreiklang ist eine Art von vielen, wie man die Frames, die wir im Buch vorstellen, ordnen kann. Zuerst geht es darum, sich komplexen Materialien rational anzunähern, also mit dem Hirn. Sind die Inhalte logisch und gut strukturiert? Sind die Kategorien trennscharf, die Argumente gut gebaut? Dann geht es darum, die Inhalte zu versinnlichen, sie mit Geschichten und Metaphern und Bildern ins Herz zu tragen. Und schliesslich geht es darum, ins Tun, in die Hand-lungsfähigkeit zu kommen, mit Medien, und Interaktivität etc.
Gieri: Und weder die Struktur, noch die 42 Tools sind abschliessend. Man kann einfach mal ein einzelnes Instrument nutzen, um einen Inhalt zu strukturieren oder eine Botschaft zu schärfen, oder man kann die Toolbox beliebig ergänzen. Aber in unseren Kursen macht es schon immer grossen Spass, die Reise wirklich mit einem Inhalt von A bis Z durchzuexerzieren.
Habt ihr schon neue Projekte im (Buch-)Fokus?
Andri: Yes. Das nächste Projekt heisst Change it! und erscheint nächstes Jahr. Es fragt: Wie können wir Geschichten nutzen, um Veränderung zu gestalten? Was sind dramaturgische Tricks, um Prozesse zielgerichteter zu machen. Aber auch, wie müssen wir Geschichten anders erzählen – oder ganz allgemein: wie müssen wir anders kommunizieren – damit Transformation gelingt.
Gieri: Ein Beispiel ist die Krise. In der Realität bedeutet die Krise immer ein langandauernder, irgendwie depressiver Zustand, von dem man hofft, dass er irgendwann von selbst vorübergeht. Wo unser:e Therapeut:in dann sagt: Sie stecken in einer Krise. Da sollten Sie keine Entscheidungen treffen. Doch im Storytelling bedeutet eine Krise das pure Gegenteil davon. Es ist ein extrem verdichteter Moment, in dem alles zusammenkommt. Ein Moment, wo Protagonist:innen vor eine unmögliche Wahl gestellt werden. Luke Skywalker musste sich entscheiden, Darth Vader die (verbleibende) Hand zu reichen oder sich in die Tiefe zu stürzen. Und davon können wir viel lernen in der Realität, wir müssen wieder mehr bereit sein, harte Entscheidungen zu treffen und Dinge aufzugeben. Nur so kommen wir vorwärts.
Das Gespräch erschien in der Passion, dem Kundenmagazin von BerlinDruck, Ende 2021.
Schreibe einen Kommentar