Alles bleibt, wie es immer war

Hannah Arendt schrieb’s schon vor 70 Jahren den Deutschen ins Stammbuch:

„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. Beispielsweise kommt als Antwort auf die Frage, wer den Krieg begonnen habe – ein keineswegs heiß umstrittenes Thema -, eine überraschende Vielfalt von Meinungen zutage. In Süddeutschland erzählte mir eine Frau von ansonsten durchschnittlicher Intelligenz, die Russen hätten mit einem Angriff auf Danzig den Krieg begonnen – das ist nur das gröbste von vielen Beispielen.

Hannah Arendt

Doch die Verwandlung von Tatsachen in Meinungen ist nicht allein auf die Kriegsfrage beschränkt; auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentlemen’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, daß es auf Tatsachen nun wirklich nicht ankommt.

Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, nicht allein, weil Diskussionen dadurch oftmals so hoffnungslos werden (man schleppt ja normalerweise nicht immer Nachschlagewerke mit sich herum), sondern vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, dieser allgemeine Wettstreit, dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei natürlich um eine Hinterlassenschaft des Naziregimes.

Die Lügen totalitärer Propaganda unterscheiden sich von den gewöhnlichen Lügen, auf welche nichttotalitäre Regime in Notzeiten zurückgreifen, vor allem dadurch, daß sie ständig den Wert von Tatsachen überhaupt leugnen: Alle Fakten können verändert und alle Lügen wahrgemacht werden. Die Nazis haben das Bewußtsein der Deutschen vor allem dadurch geprägt, daß sie es darauf getrimmt haben, die Realität nicht mehr als Gesamtsumme harter, unausweichlicher Fakten wahrzunehmen, sondern als Konglomerat ständig wechselnder Ereignisse und Parolen, wobei heute wahr sein kann, was morgen schon falsch ist. Diese Abrichtung könnte exakt einer der Gründe dafür sein, daß man so erstaunlich wenig Anzeichen für das Fortbestehen irgendwelcher Nazipropaganda entdeckt und gleichzeitig ein ebenso erstaunliches Desinteresse an der Zurückweisung von Nazidoktrinen vorherrscht. Man hat es hier nicht mit Indoktrinationen zu tun, sondern mit der Unfähigkeit und dem Widerwillen, überhaupt zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden. Eine Diskussion über die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs wird auf derselben Ebene geführt wie eine Auseinandersetzung über die theoretischen Vorzüge und Mängel der Demokratie.“

Die neue Ausgabe der Passion, dem Kundenmagazin von BerlinDruck, die im Oktober erscheint, beschäftigt sich mit dem Thema „Meinung“. Hannah Arend wäre eine passende Gesprächspartnerin gewesen. So aber haben wir gern mit dem FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube und mit Kanzlermacher Albrecht Müller über Meinungsfreiheit und Meinungsmache gesprochen. Spoiler: Es wird spannend …

1 Kommentar

  1. Matthias Franck

    Hier bestimmen sämtliche Abwehrmechanismen die Psychologie einer narzisstischen Gesellschaft. Kongruent zum Meinungsnihilismus, der oftmals mit politischer Korrektheit oder moralischer Überhöhung unterlegt ist, verbreitet sich die aggressive und oftmals passiv-aggressive Tendenz, komplexe Fragen mit der ganz individuellen Realitätswahrnehmungen zu beantworten, die nicht in Frage zu stellen sind. Die Menschen sehen sich ohnmächtig einem alles in Frage stellenden Markt ausgeliefert, der sämtliche Aspekte demokratischer Politik ökonomisch analysiert.
    Das ist ein weites Feld in der aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit und nicht zu unterschätzen.
    Matthias Franck – http://www.contorfranck.de

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