„Und was jetzt?“ Diese scheinbar unbedeutende Frage fasst den Kern des Konstruktiven Journalismus zusammen. Nicht immer nur „Was ist das Problem?“, sondern auch „Wie kann es weitergehen?“ und „Was kann besser werden?“. Genau wie konstruktive Kritik versucht Konstruktiver Journalismus, Probleme zu beheben, indem Vorschläge für Alternativen gemacht werden. International gewinnt dieses Konzept immer mehr Zuspruch. Doch wie sieht es in Deutschland aus? Wir fragten Prof. Maren Urner, Mitbegründerin von Perspective Daily.

Seit weit über einem Jahr erleben wir täglich einen Weltuntergang. Dein Buch, in dem du damit Schluss machen wolltest, kam damals zur rechten Zeit. Deine Forderung nach Konstruktivem Journalismus war in allen Medien zu hören und zu lesen. Haben die Medien im zurückliegenden Corona-Jahr einen besseren, vielleicht sogar einen guten Job hingelegt?

Solch einfache Fragen sind sehr schwierig zu beantworten, weil natürlich auch ich nur eine subjektive Wahrnehmerin eines gewissen Ausschnittes von Medien bin. Damit will ich mich nicht aus der Affäre stehlen. Ich praktiziere eine sehr ausgeklügelte Medienhygiene. Das, was ich an mich heranlasse und konsumiere, sind Formate, bei denen ich davon ausgehe und auch häufig weiß, dass sie mich gut über die Welt informieren, dass sie mich manches Mal auch herausfordern, aber dass sie keine Fake News liefern.

Prof. Maren Urner im Gespräch mit Eckard Christiani

Klar, es können sich dann und wann Fehler einschleichen. Aber insgesamt lässt sich sagen, dass ich sehr viel Tolles konsumieren durfte und darf. Ich mache das mal konkret: Der Podcast „Coronavirus-Update“ mit Christian Drosten und Sandra Ciesek machte seriöse Wissenschaftskommunikation. 

Das und anderes höre ich mit Interesse, manchmal auch Verzweiflung – dazu komme ich dann gleich noch – und manchmal sehr großer Begeisterung. Durch die Coronapandemie befeuert – jetzt erst recht – hat sich Konstruktiver Journalismus Bahn geschlagen. Alle Menschen haben gefragt: „Was jetzt? Wie wollen wir weitermachen?“ Da sind sie, die W-Fragen unseres konstruktiven Ansatzes. Die haben uns zu Beginn umgetrieben und sie treiben uns auch heute noch um. Wann und wie öffnen die Schulen wieder, wie sind die Impfraten und so weiter. Da sind wir an einem ganz wichtigen Punkt. Das sind Fragen, die uns direkt betreffen. Das ist echte Relevanz.

Und wie sind deine eher betrüblicheren Beobachtungen?

Natürlich sehe ich auch – und das blende ich auch nicht aus –, dass es nicht nicht immer so gut läuft, wie wir uns das erhoffen. Die Probleme im Journalismus, die ich zu thematisieren versuche, sind nach wie vor sehr präsent. 

Eine Kollegin und ich beobachten gerade unnötige Polarisierungen im Ländervergleich – wir leben ja in einem föderalistischen System. So einen Ländervergleich kann man negativ oder positiv nutzen. Wie meine ich das? Positiv würde heißen, wir machen da Gamification im ermutigenden Sinne daraus. Was heißt das? Meine Kollegin schlug vor, die Listen, die anzeigen, wie hoch der Wert der Durchimpfung in dem jeweiligen Bundesland ist, anders zu betrachten. Alle würden nur auf die letzten Plätze schielen und schimpfen: „Da läuft es noch nicht richtig!“ Das ist der negative Ansatz. Wir wollen aber mehr von dem erfahren, wo es gut läuft. Da kommt die Neurowissenschaftlerin in mir zu Worte: It’s all in your head! 

Es ist das Mind Set, mit dem wir an die Problematik herangehen. Wollen wir gucken, was schlecht läuft und da die ganze Zeit den Finger in die Wunde legen oder wollen wir uns das anschauen, wo wir gute Beispiele vorfinden? 

Das ist im übrigen beim Klimawandel exakt genauso. Coronapandemie und Klimawandel sind globale Themen, die uns als Menscheit betreffen, alle Männer, alle Frauen, aller Nationen, überall auf der Welt.

Man sah sich während der Hochphase der Coronapandemie zwei Gruppen von Menschen unversöhnlich gegenüberstehen sehen: Die Corona-Leugner und die Wissenschaftstreuen. Woher kommt dieser Starrsinn?

Ich sehe die Gefahr, dass Themen politisiert werden. Das sehen wir stark in den USA: Ich gehöre der Gruppe der Demokraten oder ich gehöre der Gruppe der Republikaner an. Und ich gehe bei einer bestimmten Fragestellung – bei Abtreibung, Todesstrafe, Klimawandel und co. – von einer bestimmten Haltung aus. Das haben wir in Deutschland teilweise auch, aber längst nicht so extrem, dass es bestimmte Themen gibt, bei denen klar ist, welche Haltung eingenommen werden muss. Diese Haltung über eine wissenschaftlich basierte Information zu stellen ist gefährlich, weil das dafür sorgt, dass die Scheuklappen aufspringen. Dann stehe ich für eine bestimmte Parteihaltung oder eine bestimmte Gesinnung und damit auch für eine bestimmte vorgegebene Position.

Wenn man sich die Zusammenstellung der Coronademonstrationen in Berlin angeschaut hatte, fielen einem „Koalitionen“ auf, mit denen man nicht ohne weiteres rechnen durfte. Koalitionen, die von einer Coronadiktatur schwafelten.

Absurderweise ist da genau das passiert, was ich eigentlich fordere: Sucht nach Gemeinsamkeiten und schaut nicht auf Parteihaltung und Gesinnung!

Im übrigen – das zeigten auch Beobachtungen eines ZEIT-Journalisten – gibt es eine verfremdete Realitätswahrnehmung bei den Demonstrant*innen. Interviewer: „Wie kommen Sie eigentlich damit zurecht, dass Sie hier mit Neo-Nazis gemeinsam demonstrieren?“ Demonstrant: „Hier sind keine Rechtsextremisten! Ich habe keine gesehen!“ Zwei Meter weiter stand jemand mit einer Reichskriegsflagge.

Es ist erstaunlich, wozu unser Hirn in der Lage ist, wenn wir mit einer bestimmten Weltsicht ausgestattet sind. Das Gehirn ist kein objektiver Informationsverarbeiter. Zum Stichwort selektive Wahrnehmung gab es einmal ein Film-Experiment: Studierende werfen sich nacheinander Basketbälle zu. Du hast als Proband die Aufgabe, zu zählen, wie oft sich die Leute die Bälle zuwerfen. Währenddessen läuft ein als Gorilla verkleideter Typ durch die spielende Menge. Über 50% der Proband*innen nehmen den Gorilla nicht wahr und sind völlig erstaunt, wenn sie das Video – ohne Zählaufgabe – noch einmal schauen. 

Wir müssen nicht alle Psychologie oder Neurowissenschaften studieren, aber wir sollten akzeptieren und anerkennen, dass unser Gehirn nicht so perfekt funktioniert, wie wir es annehmen. Die Frage ist eher: Wie können wir möglichst gut damit umgehen? Wir haben alle das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.

Schon eine ganze Weile habe ich das Gefühl, als wenn die Corona-Leugner keine Bühne mehr bekommen. Ist das so?

Ja, wo sind die eigentlich? Da bist du bei einer sehr spannenden Frage, nämlich der Verantwortung der Medien. Wann ist etwas real? Wann existiert etwas? Und wann bekommen wir etwas davon mit? Den einen Teil der Verantwortung haben wir eben schon besprochen, nämlich wie Informationen verpackt und weitergegeben werden. Jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter zurück: Wie werden eigentlich die Themen ausgesucht, die besprochen werden sollen? Wer entscheidet darüber? Was steht auf Seite eins, was wird in Talkshows diskutiert? Welche Inhalte werden in im Radio und in den Nachrichten als die Top-News präsentiert? Wer prägt damit auch unsere Weltsicht?

Du hast das grad so wunderbar beschrieben: Sind die Coronaleugner jetzt alle weg?

Es ist egal, ob wir über die Trump-Anhänger, den Aufstieg der AfD oder die Klimawandel-Leugner sprechen. Die Frage ist immer, welche Rolle spielen die Medien dabei? Man kann wissenschaftlich konkret nicht benennen, wie viel Prozent der Medienberichterstattung zu Gunsten der AfD fielen. Was wir allerdings relativ sicher sagen können, ist, dass die Medien dabei ganz sicher eine Rolle spielen. Stichwort: Agenda setting. Wie lange reden wir über bestimmte Themen? Und über welche Themen reden wir überhaupt?

Medien sind nichts anderes als Megaphone von Menschen, Ideen oder Gedanken. Die Megaphone bewirken die gesellschaftlichen Diskurse über Themen von Relevanz. Wie relevant ist eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Ereignis oder ein Tweet für eine bestimmte Gruppe von Menschen? Wenn wir nach Relevanz gingen, dann müssten wir jeden Tag über Corona, ja, aber auch über das Klima und die Biodiversitätskrise sprechen. Es gibt im Moment keine relevanteren Themen, wenn man ans Übermorgen denkt.

Aber da kommt wieder unser Hirn ins Spiel: Wir sind einfach unglaublich schlecht darin, etwas langfristig zu tun. Wir wissen oft nicht, was uns langfristig gut tut. Und jetzt kommt die doppelte Crux: Wir wissen noch nicht einmal, dass wir es nicht wissen.Shit, wie kommen wir denn da jetzt raus? Dafür braucht man die Psychologie, die psychologischen Erkenntnisse in den verschiedenen Subdisziplinen, um bessere Entscheidungen treffen zu können.

Insgesamt lässt sich aber behaupten, dass der Fokus noch immer auf der schreienden Minderheit liegt und weniger auf der schweigenden Mehrheit. Oder sehe ich das falsch?

Die zweiwöchentlich laufenden Befragungen der Universität Erfurt zeigten, dass die überwiegende Mehrheit die Coronapolitik insgesamt für ausreichend oder für zuwenig streng einstuft. Darüber wurde zu wenig geschrieben. Und das ist die Verantwortung der Medienschaffenden. Wie sorgen wir dafür, dass die lauten, eher rechtsgerichteten Mitbürger in Schach gehalten werden? Indem sie das vorhin beschriebene Megaphon nicht in die Hände bekommen.

Bei der Klimathematik werden fünf oder sechs Gruppen unterschieden. Da gibt es die kleine Gruppe der Dismissives, die grundsätzlich gegen alles sind: Corona ist Quatsch, den Klimawandel gibt es nicht usw. Ein wirklich verschwindend geringer Teil der Gesamtbevölkerung. Wenn man diesem Teil aber eine Stimme verleiht, so laut wie die des wesentlich größeren Teils, dann haben wir ein Problem. Dann stellen wir diese Gruppen gleichwertig nebeneinander. Unser Hirn schlussfolgert: Je öfter ich etwas höre, desto eher ist da etwas dran.

Gab es diese Randgruppen nicht schon immer?

Klar! Früher – also prämedial – waren das die Irren, die über den Dorfplatz gerannt sind und geschrien haben. Die wurden von kaum jemandem wahrgenommen. Sie hatten kein Megaphone oder Facebook. Auch deswegen ist heute eine Plattformregulierung so wichtig. Was wird mir wann von wem wie angezeigt?

Du hast ein neues Buch geschrieben: „Raus aus der ewigen Dauerkrise“. Was erwartet die Leserin und den Leser?

Wir haben eben über Perspective Daily, über Konstruktiven Journalismus, und darüber, wie man das umsetzen könnte, gesprochen. Ich habe aber in den letzten zwei Jahren festgestellt, dass lösungsorientiertes konstruktives Denken nicht nur das Thema Medien betrifft, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche. Nach dem Erfolg des ersten Buches vor zwei Jahren sind einige Stakeholder auf mich zugekommen – von Frank-Walter Steinmeier bis hin zum DFB – und wollten mehr von mir wissen. Der lösungsorientierte Ansatz und die Konzentration auf das Positive betrifft alle Ebenen.

Unser Hirn funkioniert immer gleich, ob ich Tochter, Freundin, Ehefrau, ob ich Bäckerin, Vorstandsvorsitzende oder Journalistin, ob Chefin oder Angestellte bin. Der Bedarf an Aufklärung zu diesen Themen ist riesengroß. Denn was macht uns Menschen anders als andere Tiere: unsere advanced communication. Und die beginnt bei der Kommunikation mit mir selber. Damit meine ich nicht, dass wir Selbstgespräche führen sollten. It‘s all in your head. Die Perspektive spielt nicht nur bei den Medien eine große Rolle, sondern bei allem, wie ich auf die Welt gucke.

Und wie ist dein Blick in die Zukunft der Medienwelt?

Wenn ich anfange, mir vorzustellen, was alles schief laufen könnte, dann gehe ich mit genau dieser Einstellung daran, und dann gehen Dinge schief.

Das Ziel meiner Arbeit besteht darin, dass wir irgendwann den Begriff des Konstruktiven Journalismus nicht mehr brauchen. Weil aller Journalismus konstruktiv ist. Davon gehe ich einfach einmal aus.

Maren, vielen Dank für dieses Gespräch!

Das gesamte Gespräch im Band zwei der morgen-Buchreihe.