Samira, Wahrheit wird uns immer häufiger vorgegaukelt, hat keinen wahrhaftigen Wert mehr. Reality TV hat mit Wahrheit nichts am Hut, etliche Instagram-Sternchen präsentieren ihr narratives Selbst. Worin liegt die Faszination von Erzählungen, so unwahr sie auch sind?

Da würden Reality-Stars sicherlich widersprechen, schließlich verkündet in jedem ernstzunehmenden Format irgendwann irgendwer den geradezu zauberformelhaften Satz: “Die Masken sind gefallen!” Im Reality-TV wird immer schon die Frage nach Wahrheit oder Echtheit verhandelt und zugleich wird dabei gerade im Zusammenspiel mit den sozialen Medien wie Instagram sichtbar, dass diese Frage, also wer real oder fake ist, eben ein wesentlicher Bestandteil eines großen Wahrheitsspiels ist. Und letztlich scheinen im Reality-TV oftmals diejenigen Charaktere bei den Zuschauer:innen am meisten zu punkten, die “bei sich” bleiben, dabei aber zugleich eine mehr oder weniger klassische Heldenreise mit Höhen und Tiefen hinlegen. Und dafür werden sie am Ende vom Publikum in Form von Anrufen, Kronen und Preisgeld belohnt. Dabei können durchaus Momente der Wahrhaftigkeit entstehen.

Samira El Ouassil im Interview mit Eckard Christiani

Was Wahrheit ist, so würde ich behaupten, wird in jedem Medium und in jedem Format erst hervorgebracht und ist nicht nur von der Selbstinszenierung der Stars abhängig, sondern z.B. auch von Kameras, Schnitt und Montage, die sie narrativieren. Um beim Reality-TV zu bleiben: hier geht es beim Erzählen gar nicht so sehr um die Kategorien wahr / unwahr, sondern vielmehr um den Reiz, dass eben eindrucksvolle Heldenreisen aufkeimen können, wenn man eine Gruppe von Menschen in einen Dschungel, in ein Sommer- oder Strandhaus steckt. Unter den Masken lauern dabei jedoch vor allem neue. Und als Aficionada vieler Reality-Formate würde ich sagen: dass hier mit einer spielerischen Fabulierfreude eigene Wahrheiten fabriziert werden und dabei unterhaltsame Heldenreisen entstehen, das ist die Faszination. Wir können hier also gewissermaßen den Erzählungen beim Erzählen zuschauen.

Der griechische Dichter Äsop fabulierte: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht. Das scheint heute – siehe Trump – nicht mehr zu gelten: Was gilt denn heute?

Ja, die berühmte Geschichte vom “Hirtenjungen und dem Wolf” scheint im Falle von Trump nicht zu funktionieren. Aber vielleicht könnte man mit ihm diese Fabel von Äsop neu interpretieren, wenn man Trump nicht mit dem lügenden Hirtenjungen vergleicht. Er hat ja sowieso eher was von einem Wolf. Also nehmen wir an, er ist der Anführer, der sein Rudel davon überzeugt, dass es völlig okay ist, die Schafe anzugreifen, wenn sie nur beharrlich mit ihm die Lügen des Hirtenjungen überstehen. Trump ist natürlich nachweislich ein großer Präsident der Lügen, der für die Epoche der Fakes News, der sogenannten alternativen Fakten und der algorithmisierten Verbreitung von ideologischer Online-Propaganda steht (siehe auch den Fall Cambridge Analytica). Wenn man davon ausgeht, dass er nicht nur ein großer böser Wolf ist, dann scheint es mir so, als könne man immer nur von außen auf seine Wahrnehmung und Wirklichkeit schauen. Und in diesem Jenseits der Lügen präsentieren Verführer wie Trump ihren Anhänger:innen eine eher simple Heldenreise, die verspricht: Du musst dich nicht verändern. Du musst dich nicht auf eine Reise begeben. Bleib so wie du bist. Nimm dir, was du willst. Und wenn dich andere nerven, dann friss sie einfach auf.

Die Werbung hats vorgemacht. „Ein exklusives Angebot nur für Sie!“ heißt es da in einer Mail. Und jeder von uns weiß, dass dieselbe an Millionen anderer Empfänger geht. Warum funktioniert die Lüge trotzdem?

Weil es sich nicht nur um eine schlichte Lüge handelt, sondern vielmehr um eine Selbstlüge. In Zeiten der digitalen Reproduzierbarkeit haben wir es mit einem eigenen Verhältnis von Subjekten und Produkten oder Dienstleistungen zu tun und eben auch mit einer Vervielfachung der Exklusivität. Und diese Form der Personalisierung und individuellen Ansprache wird durch KI sicherlich noch zunehmen. Ich möchte hier das Sci-Fi-Drama “Her” (2013) von Spike Jonze empfehlen, in dem der Autor Theodore eine Beziehung mit einer mutmaßlich weiblichen, künstlichen, aber menschenähnlichen Identität namens Samantha eingeht, die nur virtuell und akustisch existiert. Er baut mit ihr eine gewisse Intimität auf und glaubt, dass sie eine “echte” Beziehung führen. Bis sie ihm schließlich gesteht, dass sie ihn mit tausenden von anderen Menschen “betrügt” – und ihn folglich verlässt.

Unser gegenwärtiger Kapitalismus produziert ständig Wechselwirkungen aus narzisstischer Stimulation und narzisstischer Kränkung. Er erzeugt die Verlockungen, die er uns erfüllen möchte, und erzählt uns dabei, dass wir besonders wertvoll seien. Zugleich enttäuscht er die geweckten Begehrlichkeiten, weil er diese individualistischen Ansprüche gar nicht bedienen kann – und auch nicht bedienen will. Wir haben uns an dieses Prinzip gewöhnt, es ist uns bewusst. Wenn diese Lüge also funktioniert, dann vor allem, weil wir uns selbst betrügen. Aber auch gewisse Botenstoffe in unserem Gehirn, die auf Werbebotschaften reagieren und Glücksgefühle bewirken, haben einen Anteil daran, ob wir auf solche “exklusiven” Angebote eingehen.

Mehr noch als Narzissmus und Wünsche sind es Ängste, die Menschen bereitwillig etwas glauben lassen. So funktioniert politische Propaganda. Warum aber glauben so viele an Astrologie und Horoskope – trotz aufgeklärten besseren Wissens?

Astrologie ist eine Naturphilosophie und pseudowissenschaftliche Praxis, die seit den frühesten Mythen eine Rolle spielt und heute sehr populär und massenhaft verfügbar ist – und in dieser Funktion irgendwie ja auch ein kommunikationsfördernder Partyaberglaube. Seit jeher entzieht sie sich ihrer Falsifizierung wie Verifizierung, und nur so konnte sie als Erzählung zweieinhalb Jahrtausende überdauern und sogar die Aufklärung und Industrialisierung überstehen (und übrigens auch eine Verschiebung der Sternbilder, bedingt durch die natürliche Veränderung der Erdrotation, um circa zwei Tierkreiszeichen). Sie ist so mächtig, weil sie für das unüberschaubare Chaos von Identitäten und Beziehungen narrative Erklärungen liefert. Sie lässt sich bequem in unsere Selbsterzählungen einbauen oder sogar zu deren Mittelpunkt machen. Sie ist offen für jegliche Umdeutung, aber zugleich konkret genug für ausschweifende Analysen. Wie Religionen bietet sie ein großes Repertoire an Geschichten, Handlungsanweisungen und Entschuldigungen. Zudem teilt sie, wie viele andere säkulare Narrative der Welt- und Gesellschaftsordnung, Menschen in Kategorien ein und weist ihnen Eigenschaften, Chancen und Risiken zu. Während sich weltweit Gruppierungen und Kategorisierung auflösen, bleiben wir astrologisch Teil eines großen Ganzen und können dabei eindeutigen schönen Tierbildern zugeordnet werden – die in anderen Kulturen übrigens ganz anders gebildet und gedeutet werden. Astrologie und Horoskope stellen der Komplexität unserer Gegenwart einfach lesbare Bilder und schlüssige Erklärungen gegenüber. Zudem tun sie das in einem zeitlich nachvollziehbaren Rahmen, der sich grob an den Jahreszeiten orientiert und unser Leben in sich wiederholende Zyklen einteilt. Als Individuum kann man darin dank einer scheinbaren Kausalität Hoffnung schöpfen. Denn wenn man weiß, was vermutlich passieren wird, dann kann man sich danach ausrichten und an sich arbeiten, um Wünsche und Ziele zu erreichen. Und diese Selbstoptimierung fordern viele Astrolog:innen heute auch von ihrem Publikum ein.

Einfache, schlüssige Ergebnisse liefert die Künstliche Intelligenz. Wir lesen gerade sehr viel über ChatGPT. Es scheint selbstverständlich, dass die Erzählungen der KI auf wahrem Wissen beruhen. Kann man heutigen und zukünftigen ChatBots vertrauen oder sind Erzählungen der KI in etwa so glaubwürdig wie Astrologie?

Das Aufkommen von ChatGPT ist faszinierend und erscheint wie ein Blick in ein Universum voller unendlicher Möglichkeiten und neuer technologischer wie sozialer Veränderungen. So einfach und schlüssig sind die meisten Antworten von ChatGPT jedoch bislang noch nicht, um ihnen uneingeschränkt Vertrauen schenken zu können. Und bei gewissen Anfragen äußert dieses Sprachmodell sogar von sich aus, dass man mit den Ergebnissen vorsichtig umgehen sollte, da sie auf einem begrenzten Umfang an Daten basieren. Astrologie beruht auf spirituellen Überzeugungen und interpretiert astronomische, kosmische Konstellationen. KI analysiert Datenmengen nach vorgegebenen Algorithmen und erlernten Mustern. Schon heute kann KI astrologische Tätigkeiten simulieren und sicherlich wird die Astrologie sich diese Geschäftsmöglichkeiten nicht entgehen lassen. Ob die Prognosen zukünftiger KI glaubwürdiger sind, ist schwer zu sagen. Aber schon heute wird sie von der NASA verwendet, um den Weltraum zu erforschen und um z.B. die Bilder des James Webb Space Teleskops zu analysieren. KI kann schon gegenwärtig dabei helfen, bestimmte Objekte und Strukturen zu erkennen. Sie wird im Bereich des autonomen Fahrens, für Investitionen am Finanzmarkt, bei der Entwicklung von Impfstoffen oder in Amerika bereits bei Gerichtsverfahren eingesetzt. Wenn man davon liest, dann klingt das so dystopisch wie im Film “Minority Report” (2002), in dem Mörder festgenommen werden, bevor sie ihre Opfer umbringen. Die gesellschaftlichen, ethischen oder ideologischen Implikationen werden auch in Deutschland längst in einzelnen Bereichen diskutiert, wie z.B. im Bildungsbereich, in dem KI einen sehr großen Impact haben könnte. Auch ohne Sternzeichen und Horoskope wird sie immer mehr unser Online-Suchen, Kaufverhalten, Schreibweisen oder gesundheitliche Optimierungsversuche beeinflussen. Menschenähnliche ChatBots könnten dabei zu Mentor:innen werden, die uns bei Aufgaben und unterschiedlichsten Projekten und Abenteuern begleiten. Dadurch würden sie gewissermaßen zu Berater:innen, die mit uns zusammen unsere Erzählungen schreiben.

Wie werden die Menschen damit umgehen, wenn ihnen die KI überlegen sein wird – in vielen strukturierten Aufgabenlösungen und im Übrigen auch im Wissen um die Wahrheit?

Hier wäre die Frage, was “Wissen um die Wahrheit” bedeutet. Ich denke, dass wir gesellschaftlich spätestens während der Pandemie und auch nun im Falle des Krieges in der Ukraine feststellen durften, dass sich im Laufe von historischen Ereignissen und Situationen das, was Wissen und Wahrheit ist, erst immer auch neu formiert, ergründet, belegt, kritisiert, widerlegt oder verteidigt werden muss. Zugleich gibt es gewisse Machtinteressen, Individuen und Gruppierungen, die aus ideologischen Gründen wider besseres Wissen an bestimmten Wahrheiten festhalten wollen. Es handelt sich also nicht um neutrale Kategorien und auch eine KI folgt erlernten Mustern und z.B. einer bestimmten “content policy”, also einer Inhaltsrichtlinie, die unerwünschte Dinge zensiert bzw. ausfiltert. Daher wäre wichtig, dass auch diese Fragilität und Prozesshaftigkeit der Wissens- und Wahrheitsproduktion in der Aufgabenlösung durch KI möglichst transparent vermittelt wird beziehungsweise könnte uns KI bestenfalls dabei helfen, genau das zu leisten, um ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, dass es eben nicht “die” Wahrheit gibt, sondern Wissensprozesse, die zu nachvollziehbaren, belegbaren Wahrheiten führen können. Möglicherweise wird das manchen Menschen nicht gefallen, die eher an Macht, Meinungen oder der Astrologie ähnlichen Theorien interessiert sind. Aber ich würde mir wünschen, dass uns diese Überlegenheit – wenn man es so nennen möchte – dabei hilft, mehr Wissen und Wahrheiten über die Menschheit und unseren Planeten zu erlangen, und wir dabei auch möglichst fair und unaufgeregt Lösungen für denkbare Probleme wie z.B. den Verlust von Arbeitsplätzen finden.

Genauigkeit ist eine Grundtugend der Wahrheit. Das, was der Journalist schreibt, muss sorgfältig recherchiert und überprüft sein. Wird Storytelling durch KI wahrhaftiger im Sinne von glaubwürdiger?

Das kommt sicherlich auf die Story an. Meteorolog:innen könnten möglicherweise bald durch KI und Avatare ersetzt werden. Und – nichts gegen Fußball – ich kann mir vorstellen, dass eine KI mit ausreichend aktuellen Daten sicherlich die Stimme eines Sportjournalisten imitieren und vielleicht sogar ein ganzes Spiel kommentieren könnte. Das wäre ein schönes Experiment. So könnte z.B. die Stimme von Béla Réthy dessen Ruhestand überleben. Für die taz schreibt seit November 2022 die erste deutschsprachige KI-Kolumnist:in. Aber auch die Antworten, die in diesem Interview gestellt werden, könnten von ChatGPT stammen. Die Leser:innen können hier keinen Turing-Test machen und müssen darauf vertrauen, dass ich die echte Samira bin.

Eine KI würde heutzutage vermutlich sogar sagen, dass es für die Glaubwürdigkeit journalistischer Storys immer noch Menschen braucht, weil sie selbst die begrenzten ihr zur Verfügung stehenden Daten möglicherweise lücken- und fehlerhaft interpretiert und Journalist:innen Kontexte oder menschliche Empathie besser verstehen können. Wie in anderen Bereichen auch wird KI im Journalismus mutmaßlich eine unterstützende Funktion einnehmen. Für die Storys, die nicht nur trockene Fakten und Informationen liefern, sondern auch menschliche Interaktion erfordern, werden weiterhin die Namen von Journalist:innen für die Glaubwürdigkeit bürgen. Möglicherweise werden sich jedoch diesbezüglich Medien und Textgattungen neu ausdifferenzieren, neue Marktsegmente und spezifische Angebote entstehen. Ein Mensch wird sicherlich weiterhin glaubwürdiger über das Schicksal von Menschen in einem Kriegsgebiet berichten können, während die Gefahr besteht, dass KI glaubwürdige Propaganda produziert, die man nicht von wahrhaftigen Journalist:innen unterscheiden kann.

Ist KI der Tod der Heldenreise?

Diese Frage erinnert natürlich an die literaturtheoretische Debatte über den “Tod des Autors”, die ergründete, inwieweit Schriftsteller:innen die Kontrolle über ihre geschriebenen Schöpfungen verlieren und Texte bzw. ihre Interpretationen ein Eigenleben entfalten, bei dem Autor:innen und ihre Absichten unerheblich sind. Einerseits ist es natürlich durchaus denkbar, dass uns KI aufzeigt, dass bestimmte Textgattungen auch ohne Heldenreisen auskommen, andererseits würde ich vermuten, dass künstliche Sprachmodelle ebenfalls wesentlich von dieser archetypischen Erzählform geprägt sind. Denn diese ist nicht nur im menschlichen Gehirn, sondern weltweit in unseren Kulturen, in Kommunikation und Kunst verwurzelt – und somit auch in KI. Solange es Menschen gibt, Evolution und Biografien, glaube ich, dass auch die Heldenreise fortbestehen wird. Ich hoffe jedoch, für das Wohl dieses Planeten, dass uns KI auch neue Erzählstruktur aufzeigt. Also bestenfalls ist KI die Geburtsstunde frischer narrativer Verzweigungen, ein “Call to Action” für die Heldenreise selbst.

Samira, ich danke dir für dieses Gespräch.