Herr Mangold, Ihr letzter Titel passt sehr gut in die Zeit – Der innere Stammtisch. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen inneren Stammtisch zu gründen? Oder ist das ein Mitbringsel aus Ihrer Geburtsstadt Heidelberg?

Natürlich habe ich Erinnerungen, wie in ländlichen Regionen der alten Bundesrepublik das Prinzip Stammtisch funktionierte. Als Kind war ich sehr beeindruckt, denn ich hatte das Gefühl, dort am Tisch sitzen die Dorfmächtigen, gegen die man besser keine dicke Lippe riskiert. In der kleinen Gemeinde Dossenheim an der Badischen Bergstraße, in der ich aufgewachsen bin, stand da ein großer Messingaschenbecher mit so einem Bügel drüber, auf dem
stand „Do hogge die, die immer du hogge“. Das erschien mir als Kind eine Sehnsuchtsvorstellung zu sein, zu denen dazu zu gehören, die immer du hogge. Natürlich wandelt sich das schnell und man möchte genau das Gegenteil, aber ich habe schon eine empirische, eine soziologische Erinnerung an den Stammtisch.

Und wie funktioniert der innere Stammtisch?

Da geht es um einen Aspekt, den es beim äußeren Stammtisch vermutlich gar nicht gibt: Der äußere Stammtisch arbeitet prinzipiell eher daran, über sozialen Druck eine soziale Einheit oder Meinungseinheit herzustellen. Er wird kein Ort von starker Abweichung sein, würde ich vermuten.

Ijoma Mangold, ZEIT, Kulturkorrespondent Ressort Feuilleton, Litarturkritiker, Autor

Der innere Stammtisch hingegen zeichnet sich eher durch eine große Widersprüchlichkeit aus. Mir ging irgendwann auf, dass die Art, wie ich nach außen kommuniziere und die Art, wie ich mit mir selber spreche – der innere Stammtisch ist ja eine Art innerer Monolog – sich komplett voneinander unterscheiden. Es gibt so eine Art Zensurschranke, und das ist auch gut und schön. Nach außen tritt eine durch ein klares Weltbild umrissene Gedankenarchitektur, die so tut, als wäre sie das Ergebnis klaren, vernünftigen Nachdenkens. Wenn ich aber in mich hineinhorche, weiß ich, dass das völlig anders ist. Da sind immer Ressentiments, Affekte, Emotionen dabei, Meinungen zu produzieren. Meine Ansichten – also das, was mir durch die Birne rauscht – sind viel vielgestaltiger, bevor sie nach außen treten und mein Außenimage bilden. Denn da bemühe ich mich um Kohärenz. Im inneren Monolog natürlich nicht. Da bin ich in einem Moment dieser Meinung, im nächsten jener. 

Ich darf einen Kollegen aus meiner Anfangszeit bei der Berliner Zeitung zitieren, der mich damals als 28-jährigen sehr beindruckt hatte: Er sei meistens der Meinung, die er zuletzt gehört habe.

Das kennen wir natürlich alle voneinander: Überzeugt sein, hat auch immer etwas mit Evidenzerlebnissen zu tun und nie mit letzten Wahrheiten. Es ist ja nicht so, dass im Bereich der politischen Meinungen durch ein unwiderlegbares Argument die eine Position als die richtige zu erkennen wäre und die andere als die falsche. Ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass der innere Stammtisch insofern ein philosophisch reflektierendes Buch um die Frage ist: „Was heißt es eigentlich, politisch zu sein?“ Es ist überhaupt kein Buch zu politischen Ansichten als solchen. Kein Mensch muss sich für meine Ansichten zum Atomausstieg interessieren. Was ich versuche zu beschreiben ist, warum finden manche Menschen den Atomausstieg fatal und warum andere nicht. 

Hat das möglichweise noch andere als nur sachlich rationale Gründe?

Wenn wir ehrlich sind, so wissen wir alle, dass unser gesamtes Portfolio an Meinungen selbstverständlich von ganz anderen, von emotionalen Prädispositionen geprägt ist. Unser Naturell entscheidet viel mehr darüber, wie wir uns zu bestimmten Dingen verhalten. Zum Beispiel gehört es zu meinem Naturell, dass ich alles Extremistische nicht mag. Es spricht einfach nicht zu mir. Deswegen lehne ich auch apokalyptische Vorstellungen über die Wirklichkeit ab. Und die gibt es links wie rechts. Die linke apokalytische Erzählung lautet im Moment, dass die Welt durch den Klimawandel untergeht. Rechts heißt sie Umvolkung – Deutschland schaffe sich ab – und so weiter. Alle diese Vorstellungen, wo es quasi nur noch schwarz und weiß gibt, entsprechen meinem liberalen Skeptizismus überhaupt nicht. Aber es hat nicht so viel mit Argumenten zu tun, es ist echt auch eine Frage des Naturells. Zum Beispiel muss man zum Revolutionär geboren sein. Man wird nicht deswegen zum Revolutionär, weil man so viele kluge Argumente für die Sache der Guillotine gehört hat. Das was uns ausmacht, uns zu einem bestimmten Typus macht, ist ein Prozess, der selbstverständlich geprägt wird vom Elternhaus, von Lehrer*innen, Freund*innen oder der Gruppe, in der man sich bewegt.

In den 1980er Jahren waren viele Menschen Punks, weil sie die, wie sie fanden, spießige Bürgerlichkeit ihres Elternhauses als kleinbürgerlich und demütigend empfanden und deswegen in die andere Richtung tendierten. Das sind Ich-Entwürfe. Man erfindet sich selbst auch als politisches Wesen. Zum biografischen Entwurf gehört auch der Selbstwiderruf, dass man sich plötzlich als Irrender erkennt – der klassische Fall des Konvertiten, der die Welt damit missioniert, dass er aus seinem eigenen Irrtum herausgefunden hat.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihr Buch Der innere Stammtisch in Form eines Tagebuchs zu verfassen?

Es ging mir darum, am Band der laufenden politischen Ereignisse meine eigene Reaktion abzulesen. Dafür bietet sich das Tagebuch an. Man sitzt am Frühstückstisch, schlägt die Zeitung auf, und da steht die Nachricht, dass für so und so viele Berufe die Meisterprüfung abgeschafft werden solle. Sofort reagiere ich darauf. Sofort habe ich eine Meinung dazu. Da würde man doch sagen, das sei lächerlich, man müsse doch nicht zu allem eine Meinung haben, so zur Frage, bei welchen Berufen eine Meisterprüfung vorzusehen sei. Das könne man doch wirklich anderen überlassen. Es ist aber nicht möglich, zu irgendetwas keine Meinung zu haben. Man reagiert sofort und in meinem Fall widersprüchlich. Auf der einen Seite kommt mein liberaler Marktfreund zu Wort und sagt: „Toll, man braucht wirklich keine Meisterprüfung, um eine Waschmaschine abzuklemmen.“ Im nächsten Moment kommt aber: „Ach, das ist doch das deutsche duale System. Diese Meisterlichkeit hat doch auch eine so schöne Tradition. Ist die deutsche Wirtschaft nicht genau durch dieses Ausbildungssystem geprägt worden?“ Plötzlich finden Sie es wieder ganz schade. Und so geht es den ganzen Tag …

Wie findet man sich in dieser schizophränen Rolle? Will man nicht manches Mal vom inneren Stammtisch aufstehen und sagen: „Heute schreibe ich mal ein Essay mit einem vernünftigen Ende, basta!“

Das mache ich ja hauptberuflich als Journalist. Da geht es nicht, dass ich meine innere Zerrissenheit und meinen Selbstzweifel in den Vordergrund stelle. Das Buch ist meine andere Seite – die ich unter dem Aspekt der psychologischen Selbstbeobachtung spannend finde: der Zweifel, das Widersprüchliche, das hin und her Schwankende sind eigentlich die interessanteren Phänomene. 

Wenn ich einen großen Wert hätte, dann wäre das Beweglichkeit. Alles, was zur Petrifizierung, zur Versteinerung, zum Betonhaften neigt, würde ich als einen Verlust an Lebensenergie und -freude empfinden. Deswegen wünschte ich mir vielleicht insgesamt, dass der Raum für das Bewegliche und Spielerische gerade auch als Antwort auf eine starke Ideologisierung feindlicher Lager, wie wir sie doch in den letzten sieben oder acht Jahren erkennen können, wieder zunehmen würde.

Der reale Stammtisch findet heute in den sozialen Medien statt. Wenn wir sagen, eine Echokammer ist ein Stammtisch, so finden wir hier vorgestanzte Meinungen vor. Es gibt keine gemeinsamen Ideen über alle Stammtische hinweg. Wie kann man damit umgehen?

Das ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die allgemein anerkannt ist und als solche wahrgenommen wird. Alle beklagen das Schicksal der Polarisierung. Man muss da ein wenig tiefergehen. Natürlich ist Deutschland überhaupt nicht in einer Weise polarisiert wie es die Vereinigten Staaten sind. Davon sind wir weit entfernt. Deutschland war noch nie so stabil mittig aufgestellt. Die Zustimmungswerte der Kanzlerin resultieren weit über das eigentliche CDU-Milieu hinaus. Allerdings gibt es neben einer unfassbar großen stabilen Mitte einen ganz eklatanten Merkel-Hass bei einer absolut marginalen Gruppe.

Es gibt immer 10-15 Prozent „Querdenker“ – die gab und gibt es zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften. In den 1980er Jahren gab es Milieustudien, die die Gesellschaft in die konservativ Etablierten, adaptiven Pragmatiker oder liberale Intellektuelle und so weiter einsortierten. Diese Sinus-Milieus waren gleiche Wertvorstellungen und Lebenskonzepte gemein. Mein Gefühl sagt mir, dass sich heute in den Echokammern eher Meinungsmilieus mit großen gesellschaftlichen Überschneidungen gebildet haben.

Ja, es ist viel volatiler geworden. Der klassische Stammtisch war keine dynamische Angelegenheit, sondern eine auf Jahrzehnte festgelegte. Wenn die Filter-Bubbles gewissermaßen die Nachfolgeblasen für den Stammtisch sind, dann unterscheiden sie sich gewaltig. Es entstehen überraschende Allianzen. 

Die einzelnen Bubbles reden jedoch aneinander vorbei. Brauchen wir für die uns beschäftigenden großen Krisen nicht eine Konsensgesellschaft, um eine gemeinsame Idee von morgen zu entwickeln?

Was ist in der Demokratie Konsens? 51 Prozent. Und die Bereitschaft der anderen 49 Prozent, das System mitzutragen, auch wenn man gerade nicht das Sagen hat.

In den 1920er Jahren schrieb der große Soziologe Helmuth Plessner das denkwürdige Buch Die Grenzen der Gemeinschaft. Die Idee einer modernen Zivilisation ist es, dass wir kein authentisches Gemeinschaftsgefühl haben müssen, um ein Staatsgebilde abzugeben. Der Staat übernimmt gewisse Funktionen, dafür schafft er Institutionen. Da muss ich nicht mit meiner ganzen Seele beteiligt sein, sondern nur in meiner Rolle als Staatsbürger. Ich muss nicht die selben Werte teilen wie mein Nachbar. Das Institutionsgefüge als solches sollte allerdings respektiert werden. Wenn das funktioniert, brauchen wir nicht so viel Gemeinschaftlichkeit. 

Dann bleibt die Frage, was Gemeinschaftlichkeit überhaupt ist?

Meistens ist sie nur ein Schlagwort in Sonntagsreden. Die Medien tun so, als sei Deutschland im wesentlichen Berlin, Hamburg und München. Aber Deutschland ist vor allen Dingen Provinz. Deutschland macht viel mehr aus als Schwabing, Eppendorf und Prenzlauer Berg.  Konsensgesellschaft? Ich bin da eher streitlustig, und der Begriff der Konsensgesellschaft ist einer, vor dem ich wegrenne.

Herr Mangold, vielen Dank für dieses Gespräch!