Was Erik Spiekermann über wahrhaftiges Design weiß
Erik, wie wurde aus dem Setzer und Drucker Spiekermann ein weltweit angesehener Typograf und Designer?
Schule hat mich sehr gelangweilt. Deswegen habe ich viel nebenher gemacht und beim Tagesspiegel nachmittags eine Setzerlehre begonnen: Bleisatz. Den Job hat mir mein Vater vermittelt, der auf der anderen Straßenseite gearbeitet hat. Dort habe ich in der Montage gelernt.
Aus irgendeinem Grunde – wahrscheinlich, weil ich Gymnasiast war und Englisch, Französisch und Latein konnte – musste ich immer Todesanzeigen setzen: Bodoni, Mittelachse, also hässlich und langweilig. Grabstein-Typografie: Hier ruht in Frieden nach langem Leiden und diese fürchterlichen Vokabeln, sehr langweilig. Aber ich habe wahnsinnig viel gelernt, weil ich unter Stress fertig werden musste.
Die Ausbildung habe ich nicht beendet, das Abitur kam dazwischen. Dann Kunstgeschichte studiert – nicht so richtig, denn ich war damals schon Vater und habe nebenher als Grafiker gearbeitet. Ich hatte einen kleinen Boston Tiegel und habe mich so allmählich dem Gestalten angenähert. Ich konnte das eigentlich nicht, aber es hat anscheinend ausgereicht. Meine englische Frau arbeitete als Lehrerin und ich hatte alle möglichen Jobs. Visitenkarten gestalten und drucken und so etwas ähnliches.
Ich kannte Günter Gerhard Lange, den künstlerischen Leiter von Berthold, und besuchte, auch während der Schulzeit schon, seine Abendkurse. In der Fotosetzerei Grützmacher lernte ich später durch Jobs Fotosatz und hab es offensichtlich schnell verstanden, mit Schrift umzugehen.
1973 zog ich nach England um und habe dort, vermittelt durch jemanden, den ich am London College of Printing kannte, Layoutkurse für Journalisten gegeben. Damals hat man Spalten geklebt und Layouts angescribbelt. Das war die Zeit, in der die Layouts noch geklebt wurden. Alles in Times New Roman auf Mittelachse. Da konnte ich nicht viel falsch machen und ihnen viel beibringen. Allein der Gedanke, dass man in England in den 1970er-Jahren linksbündig gestalten und serifenlose Schriften nutzen könnte, war schon progressiv. So habe ich mich irgendwie durchgeschlagen.
Im Laufe der Zeit habe ich dort bei einer Fotosetzerei angefangen und denen das metrische System beigebracht. Das kannte der gebürtige Brite damals noch nicht. Durch meine Berthold Connection habe ich der Setzerei immer die neuesten Schriften besorgen können – pro Schriftscheibe 800 DM. Da war dann eine Schrift drauf, die man von 6 bis 48 Punkt setzen konnte – wenn‘s hochkam. So bin ich mit dem Auto – den Kofferraum voller Schriftscheiben – zwischen Berlin und London gependelt. Unsere Setzerei hatte also einen Riesenvorteil: The Berlin Connection. Ende der 1970er-Jahre konnte ich fotosetzen, montieren und habe meine ersten Schriften entworfen. Ich bin ein selbstgemachter Parvenu, der nie einen Abschluss in irgendwas gemacht hat – außer dem Abitur.
Ich habe meinen Grafiker:innen und Mediengestalter:innen immer gesagt, dass gute Gestaltung immer auch etwas mit dem richtigen Gefühl für die Fläche zu tun hat, mit der Gewissheit, dass das, was man gestaltet, richtig ist. Denkst du, dass es ein absoltues Sehen analog dem absoluten Hören gibt?
Ich habe es nicht. Ich glaube, Günter Gerhard Lange war so einer, zumindest was Schriften betrifft. Er definiert Typografie als das Inszenieren einer Botschaft in der Fläche. Das sehe ich genauso. Es gibt nur die Fläche, und die Fläche ist eben dummerweise zweidimensional. Man versucht natürlich, Tiefe mit Kontrasten und Hierarchien herzustellen, damit sich die Fläche etwas interessanter mitteilt: Wir kennen die ganzen theoretischen Konstrukte. Lange war einer, der wirklich sehen konnte, wenn eines meiner Schriftzeichen fehlerhaft war. Er hat an der 16 Punkt Schrift korrigiert. Seine Maßeinheiten waren Mäusedarm und Katzenhaar. Mäusedarm war schon ziemlich dünn. „Innen raus, oben raus, einen Mäusedarm weniger“.
Das habe ich dann gemacht. Und er konnte sehen, ob ich es umgesetzt habe oder nicht. Ich hätte das nicht gesehen. Er dagegen konnte aus drei Metern Abstand erkennen, ob an einem Buchstaben in einer Zeile etwas wackelt und nicht stimmt. Lange hatte das absolute Sehen. Ich bin eher verkopft. Ich lege mir recht komplexe Raster an und benutze Maßsysteme. Ich versuche, mir die Ordnung mechanisch herzustellen, nutze die dem Raster innewohnende Disziplin und breche dann hin und wieder aus, damit es nicht langweilig wird. So eine Ordnung ist automatisch harmonisch.
Ja, genau. Wenn du das absolute sehen hast, weißt du ganz genau, wie du damit umzugehen hast.
Meine Raster sind ein bisschen komplexer als Otl Aichers Rastersysteme, die noch vom Bleisatz herrührten. Das Problem bei seinen Rastern: Wenn Leute damit nicht umgehen können, sehen die Seiten aus wie sozialer Wohnungsbau. Otl Aicher konnte das. Du musst Weißräume lassen, auch mal etwas größer machen, großzügig sein. Das können viele nicht.
Genauigkeit ist eine weitere Tugend in der Gestaltung. Der Zeittakt unserer Medien gibt Schnelligkeit als Ziel vor, bei der Genauigkeit auf der Strecke bleibt. Ähnliches stelle ich auch in der Gestaltung fest.
Die Digitalisierung schafft schnelle visuelle Ergebnisse. Vieles davon ist nicht von übel, aber mir fehlt oft das Grundsätzliche: echtes Wissen um Gestaltung. Geht dir das auch so?
Ja, absolut! Das sehe ich bei Studierenden, auch bei Mitarbeitenden, dass das Wissen des klassischen Handwerks nicht mehr vorhanden ist. Ich bin kein altmodischer Typ, der meint, man müsse alles von der Pike auf lernen. Aber ich erkenne, dass, wenn man das Mechanische beherrscht, es einem Sicherheit gibt.
Ich mache viele Sachen intuitiv, kann sie aber begründen, weil ich es gelernt habe. Das ist wie bei einem guten Koch, der auch nicht mit jedem Löffel abmessen muss. Ich habe bei meiner Mutter backen gelernt und wusste, wenn der Teig so vom Löffel reißt, dann ist er richtig.
Die Sicherheit kommt, wenn man es oft gemacht und es aber auch einmal erlernt hat. Wenn man die Regeln nicht kennt und nicht das richtige Talent hat, dann stimmt beides nicht. Davon gibt es leider ziemlich viel. Es gibt natürlich eine ganze Menge, was die Leute begreifen, wenn sie bei dir oder bei mir mal eine Weile in der Lehre waren, dass es das Leben einfacher macht, wenn man so ein paar Regeln kann.
Würde auch eine gewisse Entschleunigung der gestalterischen Arbeit manchen Ergebnissen guttun?
Absolut. Das ist ein Grund, warum ich die Werkstatt p98a seit zehn Jahren betreibe. Wenn du etwas mit der Hand setzt, dann ist das Entschleunigung. Das tut den Leuten wahnsinnig gut. Man muss sich aber daran gewöhnen. Zu Beginn der Workshops kommen manche mit digitalen Skizzen und merken nach ein paar Stunden, dass es so nicht geht. Das Material hat plötzlich Einfluss auf die Arbeit.
Deswegen ist Handsatz eine sehr erfrischende Lehre für die Digital-Leute, weil das Analoge eben durch den Zwang der Langsamkeit und den Mangel an Material eigentlich sehr aufregend sein kann. Sie machen gestalterisch weniger, dafür aber gründlicher.
Wir verkaufen nebenher Plakate, weil es das einzige Einkommen der Werkstatt ist. Mein berühmtes und populärstes Plakat ist Better done than prfect, wobei man bei dem Wort perfect eins der beiden „e“ fehlt. Das passierte, weil ich mit der halbfetten Plakadur-Berthold-Plakatschrift angefangen habe zu setzen und erst in der vierten Zeile bemerkt habe, dass ich nur vier „e“ habe. Ich war zu faul, aufzuräumen, und hab’s einfach liegen gelassen. Am nächsten Morgen kam mein Assistent Ferdinand rein und rief: „Oh, ist ja genial!“ Es war mir nicht aufgefallen – natürlich ist das genial. Es wäre mir als Kalauer wahrscheinlich ein bisschen peinlich gewesen. Aber da es ein Fehler war, war es kein Kalauer. Das war ein totaler Glücksfall.
Und was haben wir heute am Apple? 150.000 Schriften. Und wie viele Farben hat der neue Bildschirm? Eine Milliarde. Da sitzen die armen jungen Leute vorm Bildschirm, haben diese Vielzahl von Schriften, die alle gleich aussehen, wenn man es nicht gelernt hat, und eine Milliarde Farben.
Toi, toi, toi!
Das ist die Hölle. Du kannst alles machen. Bis fünf musst du aber fertig sein. – Aber Spaß beiseite: Wenn man gelernt hat, dranzubleiben und Dinge auszuhalten hat, kann man sich auch hin und wieder mal dazu zwingen, eine unangenehme Sache nicht immer nur abzubrechen oder zu schieben. Oder sich darüber zu beklagen, dass man keine Inspiration hat.
Du hast eine der großen CI-CD-Agenturen gegründet: MetaDesign. Du hast Schriften entworfen, die inzwischen zu den Klassikern zählen: Meta, Meta serif, die Officina, die Info, die Real und die Unit. Und du hast die Fontshop ag und später mit Neville Brody den Fontshop international gegründet. Mehr Nachlass geht nicht, oder was dürfen wir noch erwarten?
Na ja, ich habe dann noch diverse andere Agenturen gegründet und große Markenprojekte betreut, zum Beispiel die Schriftentwicklung für Mercedes Benz.
Gerade bin ich mit einem Riesenprojekt für den hiesigen öffentlichen Nahverkehr beschäftigt, ein gemeinsames Erscheinungsbild und User Interface. Das sind die Sachen, die man so im Alter macht.
Würdest du sagen, dass neben gestalterischem Talent auch eine gehörige Portion Neugier eine Grundtugend für Designer:innen ist?
Ich bin unglaublich neugierig. Ich lese von morgens bis abends, auch Sachen, die ich nicht lesen müsste. Ich habe einen Haufen Druckmaschinen. Wenn ich sie auseinandernehme, dann habe ich sie verstanden.
In der Gestaltung ist das genauso: die Teile angucken und neu zusammenbauen. Durch das Zusammenbauen muss man sich über die Verhältnisse der Dinge unterhalten. Man muss den Inhalt verstehen. Wenn du etwas lernst und mitreden kannst, dann wirst du auch akzeptiert. Und deswegen ist das für mich der tollste Beruf, weil ich in vielen Branchen war und immer sehr viel gelernt habe.
Erik, vielen Dank für deine Zeit und dieses Gespräch.
Das Gespräch erschien in der 12. Ausgabe der Passion, dem Kundenmagazin von BerlinDruck.
ISBN 978-3899555271, 45,– €
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