In der Bleibtreustraße, Nähe Ku’damm in Berlin, entsteht gerade die Keimzelle eines neu interpretierten Journalismus: Media Pioneer, eine Denkschule und ein Experimentierfeld – cool, neu und unabhängig. Nach amerikanischem Vorbild stehen Relevanz und Reichweite im Fokus. 

Hier wird seit einigen Wochen mit einem Stamm von knapp 20 Mitarbeitern das „Morning Briefing“ produziert – zuerst als Newsletter erschienen und seit über einem halben Jahr ergänzend als wochentäglicher Podcast. Inzwischen nutzen 500.000 Zuhörer pro Woche diesen Dienst.

Gabor Steingart

Kein Wunder, denn der Gründer von Media Pioneer, Gabor Steingart, steht als prominente Mediengröße für Qualitätsjournalismus. Wir haben mit ihm über seinen neuen „Verlag“ gesprochen und darüber, dass er Gedrucktes im Journalismus für nicht mehr zeitgemäß hält.

Herr Steingart, erst einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihren neuen Räumen. Wie fühlt es sich an?

Gut.

Auf dem Schaufenster zur Bleibtreustraße lesen wir: „100 % Journalismus. Keine Märchen.“ Ist das nicht Berufsethos im eigentlichen Sinne? Sollte das nicht Standard sein?

Das sollte man denken. Aber das fängt schon damit an, dass in einer Zeitschrift nicht 100 % Journalismus ist, denn 50 % sind Werbung. Der gesamte Journalismus ist so finanziert. Jeder Chefredakteur bezieht sein Gehalt ungefähr zur Hälfte von seinen Anzeigenkunden.

100 % Journalismus ist eine andere Aussage, die es so noch nicht in Deutschland gegeben hat. Aus meiner Sicht ist sie überfällig. Das heißt nicht, dass das jetzt alle so machen sollen, aber es ist ein Versuch. Ein ehrgeiziges Projekt, Journalismus durch Journalismus zu finanzieren.

Media Pioneer in der Bleibtreustraße

Für Ihr tägliches Morning Briefing haben Sie sich für einen Podcast entschieden. Für jemanden, der vom Spiegel und dem Handelsblatt kommt, nicht unbedingt folgerichtig. Was steckt dahinter?

Na, ich habe mich ja nicht für Podcast und gegen was anderes entschieden. Das ist einfach die Idee, die ich aus den USA mitgebracht habe – die ich übrigens schon länger gehegt habe –, ein Morning Briefing zu machen. Das ist letztlich in allen Darreichungsformen möglich.

Kürzlich war zu lesen, dass Sie ein Redaktionsschiff planen, das auf der Spree das Regierungsviertel unsicher – oder besser: sicher – machen wird. Damit sind Sie der Erste, der eine solche Idee umsetzt. Wie ist die Idee entstanden?

Ich bin Berliner, und mir ist tatsächlich irgendwann aufgefallen, dass wir hier doch sehr viel Wasser haben. Ich war in vielen großen Hauptstädten. Wir sehen die Seine in Paris oder den Potomac in Washington, der auch Regierungsgebäude berührt. Aber nirgendwo sind die Regierungsgebäude über den Wasserweg auf so kurzer Distanz derart vernetzt und verbunden wie hier. Und da dachte ich, dass ein Schiff für unser Thema, für mein Anliegen das Beste wäre.

Redaktionsschiff Pioneer One

Wir wären dicht dabei, aber wir gehörten nicht dazu. Wir wären immer in Bewegung, nicht erstarrt. Das ist eine tolle Metapher. We are watching you. Und gleichzeitig – ganz praktisch – ist es ein Ort konzentrierter Arbeit – für eine Redaktion, aber auch für Gäste, für Interviews. Für ein Zusammenkommen mit Lesern, Zuhörern und später auch Zuschauern ist ein Schiff eine tolle Location, würde man heute sagen. Für mich ist die „Pioneer One“ – so heißt das Schiff – eher eine schwimmende Bühne für den Journalismus einer neuen Zeit.

Print spielt in Ihren Überlegungen kaum noch eine Rolle. Können Sie dennoch eine Lanze für Gedrucktes brechen?

Mein Verleger drängt mich auch immer, etwas Nettes über Bücher zu sagen. Aber ich finde, wir müssen uns innerlich frei machen. Ich mach auch kein Bekenntnis zur Schallplatte, sondern zur Musik. Ich mach ein Bekenntnis zum Film als Kunstform, aber nicht zum Zelluloid und zu diesen technischen Dingen – die sind mir ganz egal. Und die sollten allen Musikern und allen Filmemachern, aber eben auch allen Journalisten egal sein. Ich denke, dass sich die großen Musiker nie darum gekümmert haben, ob ihre Musik über einen Streamingdienst, über Mini-Disk oder den Sony Walkman zu den Menschen kamen – es ging einfach um Musik. Und hier geht es um Journalismus. Und ob der nun gedruckt oder digital ist oder später irgendwann intravenös in uns kommen wird, so sei es dann.

Gabor Steingart im Gespräch mit Eckard Christiani

Es gibt eine Wechselbeziehung: Der Journalismus zum Beispiel auf dem Handy ist ein anderer als wir ihn beim Spiegel – ich war zwanzig Jahre dort – gemacht haben: der elegische Einstieg, das Portal – man erzählt, was jetzt so alles kommen wird – und dann in Kapiteln die gesamte Geschichte. Das passt weder zur Technologie, aber es passt auch nicht zu den Lesegewohnheiten jüngerer Menschen, die sich verändert haben. Für mich ist das kein Grund, Klage zu führen. Ich guck nicht mit Trauer und Wehmut auf die Tageszeitung. Ich glaub, wir müssen lernen, mit diesen neuen Technologien umzugehen. Die Autoindustrie ist doch ein trauriges Beispiel, wie die sich an den Verbrennungsmotor klebt. Die haben vergessen, dass ihre Mission die Fortbewegung ist, und zwar möglichst so, dass kein Dritter dabei Pseudokrupp kriegt. Und wenn es nicht der Verbrennungsmotor ist, sondern die Technik was anderes möglich macht – Wasserstoff, Elektro, wie auch immer – dann bitte sofort her mit der neuen Technologie. Nostalgie ist kein Geschäftsmodell. Wenn ein ganzes Land so nostalgisch wird, dann wirds nichts werden. 

Wir machen trotzdem einmal einen Vorschlag: Was halten Sie von einem monatlich erscheinenden gedruckten Magazin, Arbeitstitel: Steingarts Nachlese, mit den weniger tagesaktuellen Interviews – zum Beispiel Ihrem Gespräch mit Franz Müntefering oder letzten Samstag mit Margot Friedländer – und ergänzenden Informationen zu Ihren Beiträgen? Das liest sich zu Hause auf dem Sofa bei einem Glas Wein sehr gut. Und: Personality-Magazine liegen doch voll im Trend!

Ich habe umgekehrt gar nichts gegen das gedruckte Wort – ganz im Gegenteil. Wir verdanken dem ja einen beeindruckenden Aufstieg als Bildungsnation. Martin Luther hätte nicht ohne die Erfindung des Buchdrucks seine Lutherbibel verbreiten können. Jede Technologie zu ihrer Zeit. Ist Print am Ende? Nein, Print ist nicht am Ende, Radio ist nicht am Ende. „Video Killed The Radio Star“ ist nie passiert. Sind die kleinen Zirkusse am Ende? Nein, nicht einmal die. Obwohl wir Kino, Fernsehen, Video und was nicht alles haben. Warum soll eins zu Ende sein, wenn das Nächste kommt? Es kriegt dann einen anderen Stellenwert. Für bestimmte Nutzungen – in diesem Fall für aktuelle News – wird Print uninteressant. Die Zeitung ist nicht responsiv und sie braucht zu lange. Aber ein Magazin oder ein Buch für alles, was tiefere Gedanken transportiert – Print hat Ewigkeitswert.

Steingarts Nachlese wird es also geben?

Das ist für mich jetzt zu weit weg. Ich hab in unserem Konzept über etwas anderes nachgedacht. Ich würde am liebsten die Tradition der Weimarer Republik des Extrablattes reaktivieren. Und das an Tagen, die uns wirklich aufwühlen. Nur dann und nur auf der Straße für umsonst. Das Extrablatt! Wenn wir einen Regierungswechsel haben, wenn wir 9/11 haben, wenn wir einen Weihnachtsmarktanschlag haben, wenn Dinge passieren, wo die Menschen schnell sehr eindringlich erreicht werden sollen, da wäre ein Extrablatt eine ganz tolle Sache. Aber das ist sehr, sehr teuer, und ich sehe ohne Werbefinanzierung zurzeit keinerlei Realisierungsmöglichkeiten. Das Layout liegt aber schon in der Schublade.

Veröffentlicht in Passion #3, dem Kundenmagazin von BerlinDruck