Wie funktionieren Meinungsmache, Manipulation, Irreführung? Der streitbare Publizist und Politiker Albrecht Müller hat uns spannende Einblicke in die Materie gewährt. Wenn es um Meinungsmache geht, weiß Müller, wovon er redet. Jahrelang hatte er selbst montags in der Lagebesprechung im Bundeskanzleramt die „Sprachregelung“ der Regierung mitbestimmt. Also mitentschieden, was der Regierungssprecher von Willy Brandt und später von Helmut Schmidt der Öffentlichkeit erzählt – und mit welchen Formulierungen er dies tut.
Als Wahlkampfstratege und später als Chef des Planungsamtes hat Müller Begriffe ersonnen, die eine Wertung in sich tragen. „Versöhnungspolitik“ ist so ein Begriff, der im Wahlkampf in den 1960er-Jahren dem späteren Friedensnobelpreisträger Willy Brandt geholfen hat.
Unwillkürlich erinnert man sich an Brandt, wie er bei seiner ersten Regierungserklärung 1969 ankündigt, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen. Müller vermittelte uns die vielfältigen Methoden, wie Meinung zu machen ist.
Herr Müller, wie haben sich die Medien in den letzten fünfzig Jahren verändert?
Die gravierendste Veränderung war 1984 mit der Öffnung für kommerzielle Medien und der Schaffung von wesentlich mehr Fernsehprogrammen durch Kabel- und Satellitenübertragung. Das hatte ein langes Vorspiel. Wir hatten damals Helmut Schmidt davon überzeugt, darüber nachzudenken, wie eine Gesellschaft aussähe, die dreißig Fernsehprogramme zur Auswahl hätte, und wie es sich auswirken würde, wenn die Fernsehdauer ansteigen würde.
Das konnte man schon Ende der 1970er-Jahrevorhersagen, denn das war in den USA längst erkennbar. Es trat eine Segmentierung der Familien ein. Der Vater sah im Wohnzimmer fern, die Kinder im Kinderzimmer. Man sprach immer weniger über das Gesehene. Dazu kamen dann noch die Möglichkeiten des Internets.
Mit der größer werdenden Medienvielfalt kam aber die große Einfalt.
Ja, das war damals das Schlagwort: Mehr Programme – mehr Vielfalt. In der Planungsgruppe im Kanzleramt war uns aber schon damals klar, dass es im Gegenteil mehr Einfalt geben würde. Und das ist auch eingetreten.
Dazu kommt, dass die wenigen Medienkonzerne in Deutschland in der Hand weniger Familien sind.
Richtig. Die Konzentration von damals bis heute ist extrem groß geworden. Die Tageszeitung „Die Rheinpfalz“ beispielsweise, die in meiner Region erscheint, gehört der Familie Schaub. Inzwischen gehören der Familie auch die Süddeutsche Zeitung, die Stuttgarter Zeitung, die Stuttgarter Nachrichten und hier im Osten mehrere Zeitungen. Helmut Kohl hat Dieter Schaub das damals zugeschanzt, was in der ehemaligen DDR zu holen war.
Wenn wir ein Medien-Oligopol in Deutschland haben, wird es dann nicht einfacher, Kampagnen zu steuern?
Das ist richtig! Keine der großen politischen Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ist ohne massive Manipulationen, ohne Meinungsmache gelaufen. Die meisten politischen Entscheidungen, ob Sie die Riester-Rente nehmen oder die damit verbundene Rürup-Rente, die betriebliche Altersvorsorge, wie auch zum Beispiel die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, sind propagandistisch eingeleitet worden. Bei der Altersvorsorge kann ich das mit vielen Schritten belegen. Wochenlang haben die ARD und das ZDF über das Älterwerden der Gesellschaft gesprochen mit der Schlussbotschaft, dass man privat vorsorgen müsse. Dafür gebe es staatliches Geld. Das Problem ist, und das ist ein gravierender Unterschied zu früher, dass so ein Medium wie die Bild-Zeitung, der Spiegel und die Zeit am gleichen Strang ziehen. 1972 bin ich zu Günter Gaus, dem Chefredakteur des „Spiegel“, gefahren und habe ihm unser Wahlkampf-konzept erläutert, natürlich in der Hoffnung, dass der „Spiegel“ die Politik der Entspannung unterstützen würde. Das könnte ich heute so nicht mehr machen. Die sind ja auf einem völlig anderen Pferd unterwegs. Der „Stern“ hat früher auch die sozialliberale Politik unterstützt. Heute ist das ein Kapitalistenblatt.
Wie werden wir manipuliert?
Sie müssen verschweigen. Sie müssen sich mit anderen zusammentun, um eine falsche Botschaft unter die Leute zu bringen. Sie müssen den Wippschaukel-Effekt anwenden – den können Sie überall beobachten –, also einen anderen abtauchen lassen, um sich selber hochzuheben. Das können Sie in meinem Buch sehr schön nachlesen.
Wo und wann informiere ich mich so aufklärend, dass ich lerne, mir meine eigenen Meinung zu bilden?
Ich finde, dass Sie heute darauf angewiesen sind, sich hin und wieder ein kritisches Medium anzugucken. Wer beispielsweise an der Frage von Krieg und Frieden interessiert ist, der muss Daniele Ganser zu den Kriegen des Westens anschauen oder gelegentlich RT Deutsch gucken. Weil diese Journalisten enorm viel an Informationsarbeit für ein besseres Verständnis leisten.
Alle Medien picken sich scheinbar im Gleichschritt ein Kernthema heraus. Im letzten Jahr war es erst die Klimakrise, dann war es Hanau, jetzt Corona. Alles, was damit nichts zu tun hat, fällt hinten runter.
So, wie Sie das schildern, ist es. Das ist im Grunde extrem primitiv. Ich habe heute im Zug nach Berlin etwas Kleines über die Nachricht geschrieben, dass die Russen die amerikanischen Wahlen mitbestimmen. Das wurde bei uns in der Tagesschau x-mal gebracht, es wurde in der Zeit gebracht: Diese einfache Behauptung der amerikanischen Demokraten, dass die Russen auf die Kandidatenauswahl Einfluss nähmen. Und es wird nirgendwo der Versuch unternommen zu erklären, wie das funktionieren soll, dass die Russen die amerikanischen Wähler so manipulieren. Das heißt, das wichtigste logische Bindeglied wird vernachlässigt. Fehlt! Aber die deutschen Medien merken nicht, dass das fehlt, sondern sie nehmen das einfach für bare Münze. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie Nichtwissen über die Komplexität des amerikanischen Wahlkampfes sichtbar wird. Ich kann nicht mehr nachvollziehen, was da für Leute bei der ARD und dem ZDF gelandet sind. Da ist nichts mehr an tieferen Gedanken. Da fehlt das Wissen. „Und mit dem Wissen wächst der Zweifel.“ Johann Wolfgang von Goethe.
Wie könnte die Zukunft von kritischem Journalismus aussehen?
Wenn ich zum Beispiel darüber schreiben wollte, wie vernünftige Wirtschaftspolitik aussehen müsste, dann müsste ich ins Detail gehen. Dann müsste ich der These der Neoliberalen, dass die Nachfragepolitik von Keynes out und vorbei sei, nachgehen. An dem Beispiel könnte man zeigen, wie wichtig es ist, wenn man eine Botschaft rüberbringen will – wie etwa, dass Keynes out sei –, dass das aus verschiedenen Ecken kommen muss. Da haben die Bremer Ökonomen, Rudolf Hickel und andere alte Marxisten, gesagt, dass Marx recht hat: Der Kapitalismus ersticke an seiner Überproduktion. Und die Neoliberalen haben gesagt: „Wir sagen das auch! Keynes ist out!” Sie wollten die Angebotsökonomie einführen. Das heißt, runter mit den Löhnen, runter mit den Lohnnebenkosten, Sozialstaat abschaffen und so weiter. Das war deren große Strategie! So haben sich beide Lager zusammengetan. Schon zu Schmidts Zeiten in den 1970er-Jahren – Schmidt war ja ein wetterwendischer Kanzler – wurden Beschäftigungsprogramme gemacht, dann wurde wieder gespart, dann wieder Programme geschmiedet und immer so weiter. Ich möchte damit erläutern, dass, wenn man das sachlich behandeln will, man in die Tiefe gehen muss. Dann muss man auch ein bisschen Ökonomie mit einführen. Und man muss Vorurteile widerlegen können und Manipulationen aufzeigen.
Also sind Sie nicht besonders zuversichtlich, dass wir umfassend informiert werden?
Ich bin da etwas pessimistisch, was die Meinungsbildung und die Entscheidungsfindung betrifft. Da bin ich eher resignativ, weil die wirklich mächtigen Leute in unserer westlichen Welt – das sind zum Beispiel die großen Kapitalsammelgesellschaften wie Blackrock und andere – inzwischen schon ihre ehemaligen Aufsichtsräte zu Parteivorsitzenden und ggf. zu Bundeskanzlern machen lassen können. Wenn das so ist, dann bin ich in meiner Funktion gescheitert. Das Bücherschreiben war umsonst, die „NachDenkSeiten“ waren umsonst. Viele unserer Leserinnen und Leser sind resigniert. Aber wie überlebt man mit seiner Idee? Man überlebt, indem man sich zusammentut. Ich springe jetzt einmal zu dem, was Sahra Wagenknecht mit „Aufstehen!“ erreicht hat. Allein das Phänomen, dass so viele Leute zusammengekommen und auch zusammengeblieben sind, zeigt, dass es ein Bedürfnis gibt, sich zusammenzutun. Je kritischer man die gesamte politische Entwicklung betrachtet, umso nötiger ist dieser Trost, in den Dialog mit anderen zu treten. Das ist nicht befriedigend mit dem Blick auf die Entwicklung unserer Gesellschaft, hilft aber vielleicht vielen Menschen, mit der Politik fertigzuwerden.
Welche Idee haben Sie dazu?
Ich erinnere an eine Kampagne des Jahres 1969. Das war die erste Kampagne, die ich damals mitmachte. Da gab es die Formel: So erkennt man Freunde! Willy Brandt im Oktober 1969 bei der Vereidigung zum Bundeskanzler: Er steht da und hat im Revers seines Jackets eine orange Nadel. Auf den Plakaten hatte er sie sowieso. Herbert Wehner hatte sie. Karl Schiller sogar. Das war eine unglaublich große Bewegung, damals noch befördert durch 600.000 Mitglieder der SPD. Heute denken wir bei „NachDenkSeiten“ wieder darüber nach, wie Menschen einander erkennen könnten, um gemeinsam zu „überwintern“ und einander zu unterstützen. Ich habe bei engen Freunden erlebt, dass die Sorge sehr groß ist, dass, wenn man allzu kritisch ist und auch bleibt, man dann nicht mehr dazugehört. Unser Erkennungszeichen ist eine Sicherheitsnadel geworden.
Herr Müller, vielen Dank für dieses Gespräch!
Das Gespräch erschien in der Herbstausgabe der Passion, dem Kundenmagazin von BerlinDruck .
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