ADC-Präsidentin Dörte Spengler-Ahrens über das Momentum

Dörte, Wie ist es, in Zeiten wie diesen werberin zu sein und kreative Ideen vor Kunden:innen zu präsentieren, die eher sparsam nach Sicherheit und Verlässlichkeit von Kampagnen dürsten?

In solch turbulenten, schwierigen Zeiten ist es für Werbetreibende entscheidend, den Spagat zwischen ihren Kunden und dem Verständnis der Bedürfnisse der Endkunden zu meistern. In einer Zeit, die von Konflikten, Naturkatastrophen und politischen Unruhen geprägt ist, sehnen sich Verbraucher nach Stabilität und Verlässlichkeit. 

Dörte Spengler-Ahrens im Gespräch mit Eckard Christiani

In diesem Kontext sind Marken von großer Bedeutung. Sie bieten Verbrauchern Rituale, Vertrautheit und ein Gefühl der Sicherheit. Daher ist es jetzt mehr als je zuvor wichtig, dass Marken präsent sind. 

Bezüglich der Frage, ob Kunden in solchen Zeiten eher weniger Geld ausgeben, muss differenziert werden. Einige Auftraggeber haben erkannt, dass gerade jetzt verstärkte Werbemaßnahmen notwendig sind, um Vertrauen und Beständigkeit in ihre Angebote zu kommunizieren. 

Dennoch ist es in wirtschaftlich unsicheren Zeiten ein natürlicher Reflex für einige Auftraggeber, in erster Linie an Werbung zu sparen, um liquide zu bleiben und sich selbst finanzielle Sicherheit zu gewährleisten. Dies kann jedoch ein Fehler sein. Oft kehren diese Unternehmen dann zu uns zurück.

Wie reagieren Kreative auf gesellschaftliche Veränderungen in Form von Kampagnen? Kannst du uns Beispiele nennen?

In der Welt der Werbung gibt es Themen, die sich gut für Botschaften im kommerziellen Kontext eignen, und solche, die sich weniger dazu anbieten. Themen wie Umwelt und Klimawandel haben das Umweltbewusstsein der Menschheit stark geprägt. Ein treffendes Beispiel dafür ist die Weihnachtskampagne von Penny im vergangenen Jahr. Sie zeigte den Wunsch einer Mutter, dass ihr Sohn nach den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie wieder ein normales Leben führen und das Versäumte nachholen kann. Solche Themen eignen sich gut für Kampagnen. 

Was die Werbung jedoch nach Möglichkeit vermeiden sollte – und auch vermeidet – ist, sich in politische Themen einzumischen. Dies kann leicht schief
gehen. Die Grundregel für erfolgreiche Werbung sagt, dass man sich nicht in Politik, Religion oder finanzielle Themen einmischen sollte. Dies gilt auf der Familienfeier und auch in der Werbewelt.

Wie entstehen fulminante Ideen überhaupt?

Im Grunde genommen nähert man sich jeder Herausforderung und Aufgabe auf die gleiche Weise an, indem man zunächst versucht, sie zu verstehen und zu analysieren. Dann beginnt man, verschiedene Lösungswege zu erkunden, was zweifellos mit viel Engagement verbunden ist. Zunächst betrachtet man die Ausgangslage, beispielsweise die Marktsituation und die Zielgruppe sowie die Botschaft, die die Verbraucher erreichen könnte. Man definiert einen USP, der einen von den anderen Mitbewerbern abhebt.

Nachdem man all dies ermittelt und analysiert hat, beginnt man, kreativ zu interpretieren: die Zielgruppe zu erkennen, das geeignete Medium, die Tonalität und die Aussage zu bestimmen. Dies erfordert Experimentieren. Schließlich ist da noch der Kunde, der die Idee ebenfalls gutheißen muss.

Das Wichtigste ist, dass Werber stets danach streben, das größtmögliche Momentum zu erzeugen, um eine garantierte Aufmerksamkeit und Wirkung zu erzielen. Diese Wirkungskraft muss der Kunde ebenfalls anstreben, denn sie geht oft mit einer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit einher. Die Gradation, in der wir diese Andersartigkeit ausdrücken, muss in Absprache mit dem Kunden festgelegt werden. Wir sind der Überzeugung, dass es ein wenig mehr sein muss, als der Auftraggeber sich zutraut, und wir betonen häufig den Mut in unseren Präsentationen. Denn ohne Mut erzielt man selten das Gewünschte. 

Wie entwickelst du dieses Momentum? Hast du eine Toolbox, aus der du dich bedienen kannst?

Ein Beispiel: Wir wurden von Zalando angesprochen, die damals die beträchtliche Summe von 30 Millionen Euro für Werbung ausgeben wollte. Anfangs schalteten sie selbst einen Werbespot, der ziemlich allgemein war. Es gab glückliche Kunden, die Schuhe aus Kartons nahmen, in die Luft warfen und lachten, begleitet von eingängiger Musik. Ein Sprecher erklärte, wie bequem es sei, Schuhe online zu kaufen und kostenlos zurückzusenden.

Als sie uns beauftragten, entwickelten wir denselben Inhalt weiter. Der Trick lag jedoch darin, dass wir einen Mann in einem beengten, beklemmenden Schuhregal filmten, der eine Warnung an alle Männer da draußen aussprach: „Lasst niemals eure Frau, eure Schwester oder Freundin diesen riesigen Online-Schuhladen entdecken. Tausend Schuhe, alle Marken. Schaut es euch an! Es hat mein Leben zerstört!“ Dann schaltete er das Licht ein und enthüllte die beeindruckende Szenerie eines begehbaren Schuhregals mit tausenden von Schuhen, alle Marken, und betonte, dass das Schlimmste daran sei, dass die Lieferung und Rücksendung kostenlos seien. Schließlich hörte man einen Schrei von ihm, gefolgt von einem Schrei einer Frau, die an der Tür stand und einen Schuhkarton entgegennahm, während draußen der Postbote schrie.

Wir haben also den ursprünglichen Inhalt genommen und ihn in eine emotional ansprechendere Verpackung gesteckt, in Form einer Warnung. Diese Herangehensweise war äußerst erfolgreich. Innerhalb eines Jahres hatten wir bereits 90 Prozent Markenbekanntheit erreicht. Dieses Niveau ist nicht immer erreichbar, aber es zeigt die Kraft einer ungewöhnlichen Darbietung.

Ja, das stimmt. Wenn man nun so eine Idee entwickelt hat, muss man diese oftmals vor verspannten Vorständen und Marketing-Menschen, die zum Lachen in den Keller gehen, präsentieren. Woher nimmt man dann die Chuzpe und die Kraft, so etwas vorzustellen?

Ich habe kürzlich das Brave Heart als Anerkennung für unerschrockene und hartnäckige Kreativarbeit erhalten. Man braucht tatsächlich eine gewisse Unerschrockenheit. Und eine Art Besessenheit, gute Arbeit abliefern zu wollen. Einige Agenturen glänzen durch ihre Fähigkeit, exzellent im Wining Dining, bei Kamingesprächen und Networking zu sein. In diesem Bereich sind wir nicht so stark, aber wir glänzen mit schlüssigen Strategien und aufregender Kreativität.

Wenn eine Idee nicht zündet und der Kunde sagt, dass er damit überfordert ist, dann ist es an der Zeit, erneut das Gespräch zu suchen. Wenn sie nicht an dieselbe Wirksamkeit glauben wie wir, dann müssen wir das akzeptieren. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es gewisse Grenzen gibt. Mit Krawall meine ich keineswegs Provokation! Wir sind nicht nur auf Konfrontation aus. 

Du bist seit 2020 die erste Präsidentin des ADC. Das ist bemerkenswert. Wie lässt sich erklären, dass auch in höheren Hierarchieebenen von Agenturen ein deutlicher Mangel an Frauen zu beobachten ist?

Mich hat das ebenfalls schockiert. Es scheint doch so, als ob Werbung etwas Frisches und Modernes ist, das den Zeitgeist einfängt. Allerdings sind in Führungspositionen von Agenturen nur wenige Frauen zu finden. Bei Jung von Matt, wo ich seit über 20 Jahren Partnerin bin, war das ähnlich. In der gesamten Branche und auch in anderen Medienberufen ist der Frauenanteil in Führungspositionen gering. 

ADC Grand Prix
ADC Grand Prix im Fachbereich Werbung 2023: Die Agentur Innocean Berlin will über Gleichberechtigung sprechen! Jasmin Mittag und ihr Künstler*innen-Kollektiv „Wer Braucht Feminismus?“ entwickelten das erste Raumschiff in Form einer Vulva und nannten es The Vulva Spaceship.

Obwohl es einige Beispiele für erfolgreiche weibliche Führungspersönlichkeiten gibt, wie Tina Müller – heute Chefin von Weleda –, ist die Präsenz von Frauen auf den Chefsesseln in der Werbebranche immer noch gering. Um diesen Missstand zu beheben, habe ich Maßnahmen ergriffen, um den Frauenanteil in der Agentur zu erhöhen. Wir haben spezielle Workshops für kreative Führungskräfte entwickelt und ein Mentorship-Programm ins Leben gerufen, um Frauen zu fördern. Obwohl Fortschritte gemacht wurden, bleibt der Frauenanteil in Führungspositionen in der Branche immer noch hinter dem Durchschnitt, insbesondere im Vergleich zu den USA und anderen Ländern.