In der Passion-Ausgabe #4 hat die promovierte Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim gezeigt, wie man auf unterhaltsame Weise scheinbar langweilige Themen für Jedermann aufbereiten kann. In diesem Jahr ist die YouTuberin und Fernsehmoderatorin (Terra X, Quarks) nun endgültig zum Medienstar aufgestiegen. Niemand erklärt verständlicher und einleuchtender wie sie, womit wir es in der Coronakrise zu tun haben.
Hier noch einmal eine Kostprobe der Grimme-Preisträgerin Nguyen-Kim aus der Passion-Ausgabe „Bindung“
Betrunken vor Liebe
Ich finde den Spruch „die Chemie stimmt“ interessant, denn es ist der mit Abstand positivste Gebrauch von „Chemie“ in unserer Alltagssprache. Die Chemie der Liebe! Ich weiß nicht, was Nichtchemiker denken, wenn sie diesen Satz benutzen, ich denke bei Liebe durchaus an Chemie – und an Wissenschaft. Ist das jetzt unromantisch? Ich weiß nicht. Ich finde nicht, dass eine wissenschaftliche Betrachtung der Welt ihr den Zauber nimmt.
Der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman brachte es perfekt auf den Punkt, als er in einem Interview sagte: „Ich habe einen Freund, der Künstler ist und manchmal Ansichten vertritt, denen ich überhaupt nicht zustimmen kann. Er hält etwa eine Blume hoch und sagt: ‚Schau, wie schön sie ist‘, und ich stimme ihm zu. Dann sagt er: ‚Ich als Künstler kann sehen, wie schön sie ist, aber du als Wissenschaftler nimmst das alles auseinander, und dadurch wird sie geistlos und trüb‘. Ich denke, er ist ein wenig hirnrissig! […] Ich kann mich durchaus an der Schönheit einer Blume erfreuen. Gleichzeitig sehe ich aber viel mehr in dieser Blume, als er sieht. Ich kann mir die Zellen in ihr vorstellen, ihre komplizierten Vorgänge im Innern, die auch eine Schönheit haben. Ich meine, es ist nicht nur die Schönheit in dieser Dimension, auf einem Zentimeter; es gibt auch Schönheit in den kleineren Dimensionen, der inneren Struktur, in den inneren Prozessen. Die Tatsache, dass die Farbe der Blume sich im Laufe der Evolution entwickelt hat, um Insekten anzulocken, ist spannend; das bedeutet, dass Insekten Farbe sehen können. Das führt zu einer weiteren Frage: Gibt es diesen Sinn fürs Schöne auch in einfacheren Lebewesen? Warum gibt es Schönheit? Mit allen spannenden Fragen, die sich aus wissenschaftlicher Erkenntnis ergeben, kommen nur mehr Reiz, mehr Geheimnisse und mehr Wunder hinzu. Es kommt immer nur hinzu. Ich verstehe nicht, wie das etwas wegnehmen sollte.“
Feynmans Worte lassen jeden Wissenschaftler leidenschaftlich auf den Tisch hauen und: „Ja, Mann!!“ rufen. Ich hoffe insgeheim, dass ihr, solltet ihr auch keine Wissenschaftler sein, das inzwischen auch so seht wie Feynman. Dinge genauer zu verstehen macht sie bloß faszinierender.
Außerdem liegt die Schönheit der Wissenschaft nicht unbedingt im Entschlüsseln der Wahrheit, sondern in der bloßen Suche danach. Ich denke nicht, dass wir so schnell Liebe in all ihren Nuancen wissenschaftlich aufschlüsseln können. Derzeit sind wir davon meilenweit entfernt. Doch ich finde es gar nicht unromantisch zu versuchen, Liebe, Emotionen und zwischenmenschliche Beziehungen wissenschaftlich zu untersuchen.
Ohne Untersuchung sage ich mit Zuversicht: Bei Matthias und mir stimmt die Chemie. Vielleicht weil wir beide Chemiker sind. Haha. Wenn ich jedenfalls nach einem intensiven Arbeitstag zu Hause höre, wie Matthias die Tür aufschließt, oder wenn er mich nach einem anstrengenden Drehtag abends am Bahnhof abholt, habe ich auch nach zehn Jahren Beziehung immer noch kurz Schmetterlinge im Bauch, wenn ich ihn sehe. Ich weiß, das klingt jetzt schon fast ekelhaft kitschig, aber der Auslöser für das Schmetterlingsgefühl im Bauch ist eigentlich alles andere als romantisch. Es ist derselbe Mechanismus wie der von heute Morgen, ausgelöst von Matthias’ Monsterwecker: eine Fight-Or-Flight-Reaktion.
Möchte ich also am liebsten fliehen oder Matthias auf die Nase hauen, wenn ich ihn sehe? Nein – und falls ihr solche Gedanken bei eurem Partner verspürt, solltet ihr euch schnell trennen, das wäre wahrscheinlich das Beste für alle. Aber tatsächlich gehört die körperliche Stressreaktion zum Verlieben dazu, auch wenn wir sie positiv wahrnehmen. Verliebtsein sorgt nicht nur für ein pochendes Herz, sondern auch für erhöhte Cortisollevel. Nachdem wir heute Morgen Cortisol neben Adrenalin als „Stresshormon“ kennengelernt haben, entdecken wir erst jetzt seine andere Seite. Mit Blick auf die Schmetterlinge im Bauch könnte man Cortisol ja sogar ein Liebeshormon nennen!
Diese Erkenntnis hilft vielleicht dem einen oder anderen auch, Lampenfieber zu bewältigen, indem man es in einem anderen Licht betrachtet. Die Angst, auf einer Bühne zu stehen oder vor fremden Menschen einen Vortrag zu halten, äußert sich nämlich ebenfalls in einer Fight-or-Flight-Reaktion. Doch Menschen, die gerne auf Bühnen stehen, verspüren nicht den Wunsch zu fliehen, sondern Schmetterlinge. Die zugrunde liegende Chemie ist dieselbe.
Der Sinn hinter einer Fight-Or-Flight-Reaktion ist in verschiedenen Situationen ebenfalls derselbe: Bei einem bevorstehenden Vortrag auf der Bühne soll genau dieser Vortrag priorisiert werden. Er ist akut sehr wichtig. Genau wie bei der Begegnung mit dem Säbelzahntiger brauchen wir volle Auf- merksamkeit. Das heißt, manche vorübergehend unwichtigen Körperfunktionen können jetzt erst mal warten – und dazu gehört zum Beispiel die Verdauung. Das Blut wird aus dem Bauch weggeleitet, und das führt zu diesem flauen Gefühl im Magen, das man in einer angespannten Situation hasst, das beim Verliebtsein aber wunderschön sein kann. Wenn ich Matthias also nach einem langen Tag wiedersehe, sagt mein Körper: „Lass alles stehen und liegen, verdauen können wir später – alle Aufmerksamkeit bitte auf diesen tollen Menschen dort richten!«
Es ist ein wahnsinniges Glück, jemanden zu haben, den man nach einem stressigen und anstrengenden Tag einmal ganz fest drücken kann. Wir alle wissen, was für eine emotionale Kraft eine Umarmung haben kann. Die Idee, sich mit „Free Hugs“-Schildern in die Fußgängerzone zu stellen und fremden Menschen Umarmungen anzubieten, wurde vor ein paar Jahren so überstrapaziert, dass sie irgendwann etwas ausgelutscht wirkte, doch die strahlenden Gesichter und die wahrhaftige Freude, die eine Umarmung selbst von Fremden auslösen kann, ist faszinierend. Was passiert da genau, wenn wir den Arm um einen anderen Menschen legen? Das fragten sich auch Psychologen der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. Ihre Studie mit rund 400 Teilnehmern umfasste drei methodische Schritte:
Schritt 1: Sie befragten die Menschen nach ihren sozialen Netzen (den echten, nicht denen im Internet) und ihrer emotionalen Unterstützung im Alltag. Hatten sie Freunde, mit denen sie etwas unternehmen konnten? Fühlten sie sich oft sozial ausgeschlossen? Hatten sie jemanden, dem sie ihre Ängste und Sorgen anvertrauen konnten?
Schritt 2: Vierzehn Tage am Stück wurden die Teilnehmer jeden Abend befragt, ob sie in irgendwelche sozialen Konflikte geraten waren – und ob sie umarmt wurden. Soweit, so gewöhnlich, was die Methoden dieser Studie betrifft. Doch jetzt kommt
Schritt 3: Die Teilnehmer wurden mit einem Erkältungsvirus angesteckt und anschließend in Quarantäne gesteckt und beobachtet! Ganz schön invasiv für eine psychologische Studie. Die Ergebnisse waren dafür durchaus interessant. Soziale Konflikte können zu Stress führen (zu dem unschönen Stress, nicht den Schmetterlingen) und dieser wiederum zu einer Schwächung des Immunsystems. Gestresst erkälten wir uns also eher. Doch diejenigen, die unter Schritt 1 ein starkes soziales und emotionales Netzwerk angegeben hatten, erfreuten sich einer geringeren Wahrscheinlichkeit, sich zu erkälten, unabhängig davon, wie viele soziale Konflikte sie innerhalb der 14 Tage durchstehen mussten. Ein ähnlich positives Ergebnis erzielten diejenigen, die unter Schritt 2 angaben, dass sie häufig umarmt wurden.
Also – Umarmungen gegen Erkältung? Es wäre sicher schön, noch mehr Forschung hierzu zu sehen, aber bis dahin bleibe ich bei meiner täglichen Kuscheleinheit.
Ich bin generell ein recht verkuschelter Mensch, und das habe ich wahrscheinlich von meiner Mama. Vielleicht habe ich da etwas geerbt, oder es liegt daran, dass sie mich als Kind sehr viel gekuschelt hat. Es ist sogar heute noch so. Wenn ich meine Eltern besuche, bekomme ich immer noch ganz viele Drücker und Küsse. Als ich zwölf wurde, ging mir ein Licht auf, woher diese ganze Knuddelei kommen könnte – beim ersten Besuch der Familie meiner Mama in Vietnam. Wir hatten einen langen Flug und eine gleichermaßen lang erscheinende, wacklige Busfahrt über enge, nicht gesicherte Straßen hinter uns. Es dämmerte, und ich stieg recht erschöpft aus dem Wagen. Da wurde ich von einer Traube fremder Menschen, die so ähnlich aussahen wie ich, überfallen. Sie schrien freudig bis hysterisch, sie weinten, und sie schlossen mich in die Arme, attackierten meine Stirn mit Küssen und ließen mich auch erst einmal nicht wieder los. Irgendwie liegt das Ganze wohl in der Familie. Und eigentlich finde ich das auch ganz schön, auch wenn mir das als Teenager natürlich superpeinlich war.
Während des Studiums ging mir ein zweites Licht auf, als ich das Molekül Oxytocin kennenlernte. Dieses Hormon spielt eine wesentliche Rolle bei Geburt und Stillen, es hilft zum Beispiel bei den Muskelkontraktionen der Gebärmutter, weswegen der Name Oxytocin aus dem Altgriechischen übersetzt so viel bedeutet wie „schnelle Geburt“. Oxytocin sorgt für die enge Beziehung zwischen Mutter und Kind, es wird auch bei romantischen Partnern, etwa beim Küssen ausgeschüttet und steht generell in Verbindung mit sozialen Beziehungen und Liebe. Nicht zuletzt wird Oxytocin auch liebevoll das „Kuschelhormon“ genannt.
Aha, dachte ich also. In der Familie meiner Mutter herrschen wohl hohe Oxytocin-Level. Doch anhand von Oxytocin sollte ich bald lernen, dass die Wirkungen von Hormonmolekülen leider nie einfach zu erklären sind.
Oxytocin ist passenderweise ein sehr hübsches Molekül, wie ich finde:
Diese wunderschöne chemische Struktur gepaart mit dem Spitznamen Kuschelhormon verschafft Oxytocin große Beliebtheit unter Nerds und Nerd- Freunden. Es gibt Oxytocin-Tassen, Oxytocin-Pullis, ja sogar Oxytocin-Halsketten zu kaufen. Und auch unter Wissenschaftlern ist Oxytocin beliebt, als Forschungsgegenstand.
1979 gab es eine Meilensteinstudie, in der jungfräulichen Ratten Oxytocin verabreicht wurde. Das Hormon löste in den Ratten ein mütterliches Verhalten aus, sie begannen sich wie Muttertiere um fremden Nachwuchs zu kümmern, als wäre es ihr eigener. 1994 fand man dann heraus, dass Oxytocin eine wesentliche Rolle bei der Partnerwahl von Präriewühlmäusen spielt. Präriewühlmäuse sehen nicht nur sehr süß aus (googelt sie mal), sondern gehören auch zu den wenigen Säugetieren, die monogam leben, also mit ein und derselben Wühlmaus bis ans Ende ihres Lebens zusammenbleiben. Was soll man sagen – Oxytocin ist einfach liebenswert. Bei Menschen sorgt Oxytocin laut einer Schweizer Studie für mehr Vertrauen. Die Forscher ließen die Studienteilnehmer ein Spiel spielen, in welchem sie unter „Vertrauenszuschuss“ Geld investieren sollten. Die Teilnehmer, die zuvor eine Nase voll Oxytocin genommen hatten, zeigten sich vertrauensvoller gegenüber den fremden Mitspielern. Und deutsche Forscher stellten fest, dass Männer unter Oxytocineinfluss weniger Kalorien über Snacks zu sich nahmen, was die Forscher vermuten lässt, dass Oxytocin reines „Appetit-snacken“ ohne Hunger unterdrücken könnte. Kuschelhormon gegen Heißhunger? Es wäre eine interessante Therapie gegen Übergewicht, aber dafür brauchen wir erst noch mehr Forschung.
Interessanterweise findet man immer mehr Parallelen zwischen Oxytocin und Alkohol. Zunächst wären da die Wirkungen, die man von außen beobachten kann. Sowohl Oxytocin als auch Alkohol können Angst und Stress reduzieren, während sie Vertrauen und Großzügigkeit stärken. Doch beide haben auch dieselben Schattenseiten: Aggressionen, Risikobereitschaft und einen Hang zur positiven Befangenheit gegenüber der eigenen Gruppe. Und auch die neurologischen Wirkungen der beiden Moleküle haben verblüffende Parallelen. So verstärkt Alkohol ebenfalls die hemmende Wirkung des Neurotransmitters GABA, wenn auch durch einen anderen Mechanismus, … . Jedenfalls scheint an dem englischen Ausdruck „love drunk“, also betrunken vor Liebe, vielleicht etwas dran zu sein.
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