Herr Böhm, Herr Pfeiffer, wie kam es zum Verlag Das Kulturelle Gedächtnis? Welche Idee steckt dahinter?

Böhm: Es hat sich in den letzten Jahren im Verlagswesen eine Tendenz entwickelt, dass Bücher im Grunde nur dann gemacht werden, wenn im Vorhinein klar ist, dass sie eine bestimmte Mindestauflage erreichen. Solche Bücher, die so ein bisschen abseitige oder schwierige Themen behandeln, haben es schwerer, weil die Verkaufserwartung von Anfang an nicht da ist. Von den fünf Gründern unseres Verlags waren drei dabei, die in den letzten Jahren immer mal mit einem Projekt, das ihnen besonders am Herzen lag, gescheitert waren, weil die Verlage gesagt haben: „Das interessiert heute nicht mehr genug Menschen“. Ein Beispiel: Die Neuübersetzung von Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ würde – so die Verlage – niemanden interessieren. 

Carsten Pfeiffer und Thomas Böhm vom Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
(Foto: Michael Jungblut, fotoetage)

Es kann aber nicht sein, dass das Erscheinen von Büchern einem Wirtschaftsdiktat unterliegt. Das war der Impuls, Bücher zu machen, die wir für den gesellschaftlichen Diskurs für notwendig erachten. Wir nehmen den wirtschaftlichen Druck raus, indem wir sagen: Wir lassen uns von unserer Leidenschaft fürs Büchermachen leiten. Wir machen das zusammen, haben keine Hierarchie und sind immer offen für neue Menschen, die an unserer Teilhabe-Idee Gefallen finden. Und keiner von uns nimmt irgendwelche Mittel aus dem Verlag heraus. Es bleibt alles drin, um die Kontinuität zu gewährleisten. Klar, auch wir müssen unsere Titel verkaufen, sonst können wir den Laden dichtmachen. Aber unsere Mindestauflage ist eben eine viel geringere.

Pfeiffer: Die fünf Gesellschafter sind alle aus der Branche und bringen sozusagen 135 Jahre Branchenerfahrung und Know-how mit (lacht), durchaus mit verschiedenen Schwerpunkten. Wir haben alle einen Brotberuf, von dem wir leben. Wir sind nicht darauf angewiesen, vom Verlag DKG zu leben. Das macht es ein bisschen entspannter. Trotzdem sind wir ein Wirtschaftsunternehmen und müssen Gewinne machen. Das läuft bei manchen Titeln wie „Die Wunderkammer der Deutschen Sprache“ ganz hervorragend. Bei manchen Titeln wie der Neuübersetzung von Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ war von vornherein eingeplant, dass das nur 1.000 bis 1.500 Menschen interessiert.

Wie entscheiden Sie, welche Werke neu aufgelegt werden?

Böhm: Wir treffen uns jedes Jahr am Elsensee vor den Toren von Berlin und verbringen dort einen ganzen Tag zusammen. Jeder sammelt über Monate, übers Jahr Titel, die er dann den anderen vorstellt, und dann treffen wir die Entscheidung wie immer gemeinsam.

Haben Sie eine politische Botschaft?

Böhm: Eine? Viele! Die Verlagsidee ist politisch, nämlich zu sagen, es gibt Bücher aus der Vergangenheit, die für die Gegenwart wichtig sind. Das kann man natürlich in einer humanistischen Dimension sehen. Es ist eine Wertschätzung der Menschen, die vor uns gelebt haben, die vor uns Größtes geleistet haben. Wir wären heute nicht da, wo wir stehen, auf den Schultern von Riesen – in einer Gesellschaft, die in gewisser Weise an manchen Stellen ihr Gedächtnis verliert. 

Wir haben von Anfang an eine weitere politische Botschaft, die da lautet: We don’t deal with Amazon. Wenn es einen Traum gäbe, den ich verwirklicht sehen will, dann ist es der, Amazon möge verschwinden und der Buchhandel wäre dadurch nicht mehr bedroht. Und natürlich hat jedes einzelne Buch eine Art von politischer Botschaft. Indem wir die Bücher bringen, stellen wir sie ins Licht. Das ist mal subtiler, mal weniger subtil.

In dem Moment, als die AfD sich des Namens von Erasmus von Rotterdam bemächtigen wollte – als Namenspatron der AfD-nahen Stiftung – haben wir nur aus diesem Anlass das Buch „Der sprichwörtliche Weltbürger“ mit einer Auswahl von Schriften veröffentlicht, in denen Erasmus sein Verständnis im Umgang mit Fremden, von Gastfreundschaft zum Ausdruck gebracht hat.

Der sprichwörtliche Weltbürger (Foto: Michael Jungblut, fotoetage)

Pfeiffer: Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Eine Partei wie die AfD erdreistet sich, diesen Namen zu kapern. Den Namen eines europäisch gebildeten Humanisten, eines weltbürgerlichen Intellektuellen, eines Pazifisten. Den Namen eines Mannes, nach dem studentische Förderprogramme der Europäischen Union benannt sind. Da haben wir gesagt, wir lassen Erasmus von Rotterdam selbst zu Wort kommen.

Ein anderes Beispiel ist das Buch „Reise in ein neues Leben“ aus dem ersten Programm unseres Verlags. Worum geht es? Ein Mensch hat zu Hause wirtschaftliche und auch familiäre Probleme – er hat sich in eine Frau verguckt, in die er sich nicht hätte vergucken sollen. Er hat dort keine Zukunft mehr, verkauft Haus und Hof, um sein Glück woanders zu suchen. Er muss viele Landesgrenzen überwinden – 36 an der Zahl. Die Hälfte des Geldes geht für Schlepperbanden drauf, die ihn über die Grenzen bringen. Er kommt in eine Hafenstadt, in der er lange auf eine Schiffspassage warten muss. Auf der Überfahrt sterben viele Menschen. Im neuen Land angekommen, stellt er fest, dass er dort gar nicht willkommen ist. 

Das ist jetzt keine Geschichte eines syrischen Opfers auf dem Weg nach Europa, sondern die eines Schwaben 1750 auf dem Weg nach Pennsylvania. Mitte des 18. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts sind 5,9 Millionen Deutsche – das waren zu einem kleinen Teil politisch Verfolgte, aber zu einem sehr großen Teil Wirtschaftsflüchtlinge – nach Amerika ausgewandert.

Pennsylvania war zu der Zeit, als unser Schwabe dort eintraf, eine Privatkolonie der Familie William Penn. Die Familie hatte fürchterliche Angst vor Überfremdung. „Da kommen ja immer mehr Deutsche.” „Das sind ja eigentlich gar keine richtigen Weißen.” „Die gründen jetzt hier sogar schon Zeitungen!” „Wir werden hier kulturell von denen dominiert.” usw. Benjamin Franklin schrieb damals böse Zeitungsartikel – heute würde man sie rassistisch nennen –, man solle die Deutschen irgendwo konzentriert kasernieren und wieder zurückschicken. Damit ist Gottlieb Mittelbergers Buch brandaktuell. Flüchtlingsströme gab es schon immer …

Kommen wir auf Ihre Wunderkammer der Deutschen Sprache zu sprechen. Es gehört laut der Stiftung Buchkunst zu den fünf schönsten Büchern, die 2020 erschienen sind. Das ist doch eine schöne Bestätigung Ihrer Arbeit, oder?

Böhm: Das ist vor allen Dingen eine Bestätigung für unsere Zusammenarbeit mit den Grafikern von 2xGoldstein. Wir haben unseren Gestaltern gesagt, dass wir unsere Bücher als Hommage an die Buchkunst verstehen. Wir haben ihnen völlig freie Hand gegeben und waren unglaublich gespannt. Als sie uns das Ergebnis zum ersten Mal präsentiert haben, ist uns allen das Herz aufgegangen, weil wir wussten: Jetzt haben wir einen Verlag. Vorher hatten wir eine Idee, jetzt haben wir einen Verlag. Wenn die Bücher so aussehen, erkennt man sie immer sofort wieder. Wir haben unser Verlagslogo, wir machen eine Prägung, wir haben immer anders farbigen Kopfschnitt. Wir wollten keine 08/15-Gestaltung – jedes Design wird nach Inhalt neu entwickelt.

Die Wunderkammer der Deutschen Sprache (Foto: Michael Jungblut, fotoetage)

Bei der Wunderkammer war es so, dass Carsten und ich die Inhalte zusammengesucht und sie zu 2xGoldstein geschickt haben. Die Grafiker haben tatsächlich jede Seite neu gestaltet. Kein anderer Verlag würde sich so einen Wahnsinn leisten. Dreihundert Seiten – und jede für sich ein Unikat. Natürlich ist das eine Bestätigung, aber es drückt auch den Glücksstrom in der Zusammenarbeit aus. Auch, dass wir aus dem Möglichen schöpfen können und nicht den wirtschaftlichen Druck dahinter spüren.

Aus „Die Wunderkammer der Deutschen Sprache“ (Foto: Michael Jungblut, fotoetage)

Ihr Buch will Fingerzeig sein in die Welt der Grammatik, der Linguistik, des Sprachgebrauchs, der Dichtung, der Weltanschauung, die in jedem Wort zum Ausdruck kommt. Wir sehen heutzutage eine Verrohung der Sprache, leider auch durch die sozialen Medien befeuert. Meinungsäußerungen bedienen sich einer simplen Sprache mit fehlerhafter Grammatik. Sehen Sie sich als Rufer in der Wüste mit Ihrem Werk?

Böhm: Nein, dafür ist das Buch zu spielerisch. Da geht es wirklich um den Reichtum der Sprache. Wir haben die Schatzkammer eher an den Rand der Wüste gestellt und rufen den Leuten zu: „Kommt mal hier gucken, was es alles gibt!” Das, was wir lesen, ist spielerisch, witzig, zum Teil auch albern …

Pfeiffer: Aber auch erhellend. Es gibt in Deutschland sogenannte Sprachwächter zur Reinhaltung der deutschen Sprache. Die Franzosen sind mit ihrer Sprache noch kritischer. Es ist ja zum Teil ganz interessant – und das war für uns auch eine Entdeckungsreise –, was man dazulernt. Wir wissen, dass bestimmte Begriffe der deutschen Sprache Eingang in andere Sprachen gefunden haben: le waldsterben, the kindergarten und so weiter. Aber wie viele deutsche Worte ins Finnische, ins Albanische, ins Türkische Eingang gefunden haben, das ist einfach spannend zu wissen. Es gibt also nicht nur Worte, die wir benutzen, die aus dem Arabischen, Indischen oder aus den romanischen Sprachen kommen, sondern auch umgekehrt.

Böhm: Was für mich ein ganz starker Impuls war, ist die Diskussion um die deutsche Leitkultur. Was ist eigentlich das Deutsche? Wer ist deutsch? Eine der Definitionen ist, dass Deutsche sind, die Deutsch lernen, die die deutsche Sprache sprechen. Das ist aber nicht das, was im Duden steht. Deutsch ist eine Wunderkammer, und sie verändert sich ständig. Deutsch ist ein lebendiger Organismus. Wir haben zum Beispiel die Definition des Goethe-Instituts im Buch. Die allerhöchste Sprachkenntnis wird definiert durch das Bewusstsein aller Nuancen einer Sprache. Bleibt die Frage: Bin ich mir aller Nuancen der deutschen Sprache bewusst?

Eigentlich sollte dieses Buch für jede*n Schüler*in Pflicht sein. Haben Sie schon zu den Kultusminister*innen Kontakt aufgenommen?

Böhm: Das ist ein Vertriebsproblem. Ich geb’ das dann mal an Carsten weiter. (lacht)

Pfeiffer: Ich habe viele Jahre den Vertrieb für einen Schulbuchverlag gemacht. Mit 16 Ministerien, 72 verschiedenen Schulformen und mehreren Tausend Lehrplänen in Deutschland ist das nicht ganz einfach. Aber wir haben viel positives Feedback bekommen. Es ist natürlich ein Buch für die Deutschlehrer*innen, um ihren Unterricht aufzulockern oder die ersten fünf Minuten des Unterrichts zu gestalten. Was könnte ein Meuchelpuffer sein? Was ein Gesichtserker? Was ein Krautbeschreiber? Mit solchen Worten kann man wunderbar im Unterricht spielen.

Böhm: Ich als Vater von zwei Töchtern, 11 und 14 Jahre alt, habe auch ein pädagogisches Motiv. Ich möchte, dass meine Töchter irgendwann unsere Bücher in den Händen halten und sagen: „Man, sind die schön! Die hat mein Vater gemacht.”

Herr Böhm, Herr Pfeiffer, vielen Dank für dieses Gespräch.

Das Gespräch erschien in der Herbstausgabe der Passion, dem Kundenmagazin von BerlinDruck .