Ein Gespräch mit Silke Müller über Social Media und die Gefahr, unsere Kinder zu verlieren

Liebe Frau Müller, sie haben ein eindrucksvolles verstörendes Buch über Gewalt, Missbrauch und Rassismus in Klassen-Chats und die gefährlichen Tiefen einer digitalen Parallelwelt geschrieben. Welches Erlebnis hat Sie ermutigt, oder hat es zwingend gemacht, dass Sie Ihre Erfahrungen in einem Buch versammeln?

Ich glaube, der Begriff zwingend ist der bessere. Ich bin als Schulleiterin mit dem Thema Soziale Netzwerke und wie sie die Welt der Kinder verändern und beeinflussen seit ungefähr 2016 öffentlich unterwegs. Es gibt das Forum Bildung Digitalisierung in Berlin, das erstmals den Föderalismus überwunden hat und ganz viele Schulen aus dem Bundesgebiet zusammenholt und zu verschiedenen Themen diskutiert. Dort habe ich 2016 erstmals über dieses Thema gesprochen. 2018 kam TikTok, die Inhalte veränderten sich, gingen rasend schnell viral, das Suchtverhalten potenzierte sich. Wir erkannten: Jetzt haben wir ein Problem.

Silke Müller ist Schulleiterin einer Ganztagsschule, der Waldschule Hatten bei Oldenburg und seit 2021 erste Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen. Sie kämpft für eine ethische und demokratische Werteerziehung – auch und vor allem in der digitalen Welt. Ihr Buch Wir verlieren unsere Kinder erreichte Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Nach einem Porträt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – dort wurde ich als streitbare Direktorin vorgestellt – rief mich mein heutiger Schriftstelleragent an und meinte, es sei genau jetzt der richtige Zeitpunkt, ein Buch über digitale Ethik zu schreiben. Und weil ich viele Menschen – Eltern und Großeltern – erreichen wollte, habe mich dann dafür entschieden, ein Buch zu schreiben. 

Können Sie drei eindrucksvolle Schilderungen von Kindern oder Jugendlichen benennen, die den Ernst der Situation illustrieren?

Zum einen gibt es eine totale Gewaltverherrlichung. Es gibt Foltervideos, in denen unsere Kinder die Kastration eines Mannes, der auf einen Tisch gefesselt wurde, ansehen müssen. Tierquälerei ist ein großes Thema: zum Beispiel ein Film über die Tötung eines Welpen. 

Auf der anderen Seite dreht sich wirklich viel um Cybermobbing. Kinder machen sich gegenseitig fertig, eben nicht nur auf dem Schulhof, sondern gestreamt auch im Netz. Das sind dann schon Vorfälle, die oft mit sexualisierter Gewalt zu tun haben. Ich schreibe in meinem Buch davon, dass ein Mädchen während einer sehr, sehr intimen Situation gefilmt wurde und das Video von dem Jungen dann so verändert wurde, dass nur noch sie zu sehen und zu hören war. Dieses Video ging überall viral – nicht nur an seiner Schule, auch an unserer Schule.

Aber es gibt auch Beispiele, bei denen Kinder selber eine Rolle annehmen und sich in Gefahr begeben: Ein junges Mädchen macht bei einer Dickpic-Challenge mit, bei der es darum geht, wer als erste das Bild eines erigierten Penis erhält. Dafür geht sie bewusst auf die Plattform Knuddels, gibt sich als älter aus und steigt bewusst in eine sexualisierte Sprache ein. Sie provoziert mit dem Wissen, dass es sich auf der anderen Seite um ältere Männer handelt und wartet nur, als erste diese Bilder zu bekommen. Auch diese Dimension gibt es. 

Und eigentlich kommen täglich neue Challenges dazu!

Gerade auch im Bereich Tierquälerei in einer abscheulichen Dimension: Kinder, wahrscheinlich aus dem asiatischen Raum, stecken eine Babykatze in einen Mixer und betätigen diesen. Doch die Katze ist nicht tot. Danach geben sie das Tier in die Mikrowelle. Dieses Video ist bei Twitter aufgetaucht, fand seinen Weg über Screenshots und Filmausschnitte zu TikTok und damit in unsere Kinderzimmer. 

Schlimm daran sind auch die Kommentare, Smilies und Äußerungen. Das ist sehr, sehr besorgniserregend, weil die Hemmschwelle scheinbar immer weiter sinkt. Kinder verrohen!

Es gibt überdies im Moment den Trend, dass Soldaten an der Front in der Ukraine sogenannte TikTok-Livestreams machen, das heißt, sie haben GoPro-Kameras am Helm und streamen dann live von der Front – und unsere Kinder sind live dabei.

Es treten auch immer wieder gesundheitsgefährdende Trends wie die Blackout- oder Hot-Chip-Challenge auf, das ist einfach unaufhaltsam.

Sie sind Schulleiterin. Haben Sie das Gefühl, dass die Schulen um die Gefahren für unsere Kinder wissen und entsprechend handeln?

Absolut nicht. Das Bewusstsein, dass wir eine Verantwortung haben, wir in der Schule, Elternhäusern, aber auch Gesellschaft, ist, glaube ich, immer noch nicht ausreichend verankert. Ich habe nicht mit der Resonanz auf mein Buch in der Form gerechnet, dass viele Schulen mit Fragen zum Beispiel zu unserer Social Media-Sprechstunde auf mich zukommen oder um ein Referat bitten.

Sie sind die erste niedersächsische  Digitalbotschafterin. Was machen Sie da konkret und hilft das bei Ihrem  Anliegen?

Ich bin ein überzeugter Fan von Netzwerkarbeit. Wir sollten kollaborieren. Wir, das heißt Menschen aus unterschiedlichesten Bereichen: Bildung, Wirtschaft, Industrie, Politik und Zivilgesellschaft. Ich bin keine Gegnerin der Digitalisierung. Im Gegenteil: Ich arbeite an einer digitalen Schule, gestalte diese Prozesse maßgeblich mit. Man sagt oft, weil ich auf die Missstände in den sozialen Medien hinweise, ich sei gegen die Digitalisierung. Aber ich stelle mich den Aufgaben der Transformation.

Das ist doch ein Pakt mit dem Teufel.  Gerade dann, wenn wir versuchen, die Kinder über Social Media zu erreichen. Was wünschen Sie sich von den  Kreativen?

Insgesamt knapp 64 Stunden beträgt die Internetnutzung pro Woche bei Jugendlichen laut einer aktuellen Postbank-Studie. Mädchen sind sieben Stunden länger online als die Jungen. Kommunikation, Sozialisation und Charakterbildung verlagert sich in Netzwerke. Das grundsätzliche Interesse an anderen, dieses Sehen, ob es jemandem gut oder schlecht geht, das nimmt ab. Und übrigens auch die Einsatzbereitschaft für das Allgemeinwohl. Die Mediennutzung unserer Kinder hat also eine gewaltige Relevanz. 

Von den Kreativen wünsche ich mir, dass sie aus den Augen und den Herzen der Kinder sehen, um dann genau zu überlegen, ob man eine Entscheidung aus kommerziellen Gründen treffen darf oder nicht. Wenn wir bei den Machern der Plattformen sind, dann glaube ich, haben sie jegliches moralisches Gefühl verloren. Ein Mitarbeiter von TikTok sagte neulich in den Tagesthemen, wenn er ein Kind hätte, dürfe das niemals TikTok konsumieren. Das sagt dann alles.

Dieses Gespräch ist aus der Passion #13, dem Kundenmagazin von BerlinDruck.