Neinsagen fällt schwer. … Denn es bringt Entfremdung von der Herkunftsfamilie mit sich, wenn einer in die Welt hinaus will. Illoyal zu sein, bedeutet Ächtung von den Kollegen und scharfe Gewissenbisse, wenn es darum geht, Missstände in der Firma anzuprangern. Und es bedeutet – was am schlimmsten wiegt – Verrat an den eigenen Idealen gerade dann, wenn es erforderlich wäre, frühere ideologische Überzeugungen glaubwürdig abzulegen.
Umso merkwürdiger mutet es angesichts dieses allgegenwärtigen Zwangs zur Loyalität an, dass Illoyalität derzeit wieder hoffähig zu werden scheint: als Ausdruck „zivilen Ungehorsams“ einer Gruppe Gleichgesinnter gegen Staat, Regierung, die epidemiologische Wissenschaft, die „Lügenpresse“ oder die Mainstream-Gesellschaft, die aufgerüttelt und auf den rechten und guten Weg gebracht werden müssten. …
Gerade weil der moralisierende Gesinnungsterror im tribalistischen Kollektiv sich leicht als heroische Form der Illoyalität gegenüber dem Mainstream stilisieren lässt, ist er fein zu scheiden von jenem individuellen Aufbegehren der Nonkonformität, dem wenig Heroisches anhaftet. Eine Anleitung zur Illoyalität ist das genaue Gegenteil der gängigen Empörungsrhetorik, erst recht der kontrafaktischen Tendenzen sogenannter Verschwörungstheorien.
„Es ist Zeit! Jetzt oder nie gilt es, radikal zu werden. Erheben wir uns. Rebellieren wir!“ Mit diesem Slogan wirbt das Handbuch „Wann, wenn nicht wir“ der Öko-Aktivisten Extinction Rebellion um Unterstützung und Zustimmung. Extinction Rebellion (XR) ist eine mittlerweile immer mehr Zuspruch findende Polit-Bewegung, die in England im Herbst 2018 entstanden ist. Unter anderem legte sie die Metropole London mehrere Tage lahm und gab der Innenstadt mit Straßen- und Brückenblockaden ihre eigenen Farben – das Pink der Rebellion. Ziel ist es nach eigenen Aussagen, mit Mitteln des gewaltfreien zivilen Ungehorsams auf die existenzielle Krise – das sich rasant ausbreitende Artensterben, das auch uns Menschen erfasst – aufmerksam zu machen und einen Systemwandel herbeizuführen. …
Extinction Rebellion ist eine Bewegung, die rhetorisch und moralisch aufgeladene Loyalität von ihren Unterstützern einfordert, eine totale Identifikation, die vielen Anhängern freilich nicht allzu schwer fällt, weil die Organisation in hohem Maße mit ihren eigenen persönlichen Zielen übereinstimmt. Extinction Rebellion steht im Zentrum der Erörterung, gleichsam exemplarisch, weil sich hier ein Unbedingtheitsanspruch kollektiv Ausdruck verschafft. Dieser Gestus ist ebenfalls weit verbreitet bei Fridays for Future, unter links-grünen Journalisten und Intellektuellen oder aber auch – auf der rechten Seite – bei Pegida, der „identitären Bewegung“, oder der in der Corona-Zeit entstandenen Initiative „Querdenken 711 – Wir für das Grundgesetz“, die sich für „Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Liebe, Freiheit, Frieden und Wahrheit“ und gegen die staatlich verordneten Freiheitseinschränkungen in Pandemiezeiten einsetzt. Alle diese Bewegungen könnten mehr oder weniger den apokalyptischen Slogan „Es ist Zeit …“ unterschreiben, der ja offenkundig inhaltlich unbestimmt ist. Bestimmt darin ist nur die Dringlichkeit des Handelns hier und jetzt. Angesichts der Lage der Welt, der Gesellschaft oder des Corona-Ausnahmezustands gelte es, „Haltung zu zeigen“, heißt es vielfach. Die richtige Moral sei gefordert – gemeint ist Gesinnung.
Die meisten dieser Empörungsbewegungen sind junge Initiativen. Viele ihrer Anführer geben zu Protokoll, sie seien in ihrem bisherigen Leben unpolitische Menschen gewesen, müssten jetzt aber das Wort ergreifen. Die gängige Protestform ist die Großdemonstration, die in vielen Fällen professionell organisiert wird mit Busunternehmen und erfahrenen Widerstandsfirmen (…).
Vorbild der Empörungspraxis ist das Zornesbuch des damals 93-jährigen Stéphane Hessel (1917 bis 2013) „Empört euch!“ aus dem Jahr 2010, dessen Inhalt sich darauf beschränkte, zum Widerstand aufzurufen, ein Bestseller, von dem binnen eines Jahres mehr als eine Million Exemplare verkauft wurden. In Deutschland lag das schmale Ullstein-Büchlein monatelang stapelweise an den Kassen der Bahnhofsbuchhandlungen. Die Streitschrift errang hohe Glaubwürdigkeit durch ihren Autor, der im Zweiten Weltkrieg für die Résistance gegen die deutschen Nazi-Besatzer Frankreichs gekämpft und das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hatte. Der Gegner, dem auf riskante Weise Loyalität verweigert wurde, ist hier eindeutig fassbar: das Unrechtsregime der deutschen Nazis.
Hessels Pamphlet speist sich aus dem französisch-existenzialistischen Freiheitsgestus eines Jean-Paul Sartre und der unbegründeten Unterstellung, Finanzkapitalismus, Nationalismus oder Neoliberalismus seien mit der Naziherrschaft irgendwie strukturell vergleichbar und rechtfertigten auch heute eine Pflicht zu Illoyalität und politischem Widerstand. So jedenfalls wurde das Bekenntnis Hessels von der – inzwischen fast schon wieder in Vergessenheit geratenen – Bewegung Occupy Wall Street in den Jahren der Finanz- und Eurokrise gedeutet und als Legitimationsschrift in Anspruch genommen.
Heute richtet sich der heroische Empörungsgestus der neuen grünen oder rechten Bewegungen gegen eine gefährlich untätige Gesellschaft (sei es angesichts des Klimawan-dels, der islamistischen Bedrohung oder des staatlich unterdrückten Rechts des bürgerlichen Freiheitsgebrauchs), wenn es sein muss aber auch gegen den Kapitalismus, der die Auslöschung des Menschengeschlechts durch die Menschheit selbst erst ermöglicht haben soll. Die sozialen Netzwerke liefern quasi einen globalen Verstärker für die neue Empörungskultur, von der Stéphane Hessel noch nichts wusste. „Aktivismus ist zu einer der leichtesten Arten geworden, wie man als cool gelten kann“, sagt ein Teenager in Boston in einer Umfrage der Zeitschrift „Economist“ zur Frage, wie Jugendliche die Regeln der Nachrichten neu schreiben. Es zeigt sich: Die Herstellung von Zugehörigkeit im virtuellen Raum erfolgt über sogenannte „Memes“, Textausschnitte, Videos, Podcast-Fetzen, die im Netz kettenreaktionsartig verbreitet werden und so im Nu einer breiten Masse bekannt gemacht werden.
Halten wir fest: Die neuen Bewegungen werden durch den hohen Ton der Empörung zusammengehalten, der stets mit relativ vagen Zielen einhergeht. Irgendwie alles verfällt der Empörung, so wie in den Achtundsechziger-Zeiten die FDGO (für die, die sich nicht mehr erinnern: „die freiheitliche demokratische Grundordnung“) oder „die herrschende Gesellschaft“ als Ganze dem Verdikt verfielen, es gebe kein richtiges Leben im falschen. XR & Co. versammeln Menschen der richtigen Gesinnung um sich, verlangen Gruppenloyalität und fordern Illoyalität gegenüber einer verderbten, unbeweglichen verfassten Gesellschaft, ohne Rücksicht darauf, dass es sich um Demokratien handelt. …
„Zivil“ am „zivilen Ungehorsam“ ist nicht, dass es bei den Formen des Protestes zivilisiert zugeht, sondern, entsprechend dem englischen Wort „civil“, dass es eine „bürgerliche“ Ge-horsamsverweigerung ist den gewählten Repräsentanten gegenüber. Entstanden ist die Widerstandspraxis – zugleich auch ihre Theorie – in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Protest gegen die amerikanische Sklavenhaltergesellschaft. Der Dichter Henry David Thoreau (1817 bis 1862) vertrat die Auffassung, es sei vom Gewissen geboten, einem Staat, der Sklaverei erlaube, die Steuern vorzuenthalten. Hier zeigt sich schon der Unterschied zur heutigen Empörungsfolklore: Gefolgschaftsverweigerung einem demokratisch verfassten Staat gegenüber hat ihren Ursprung nicht in der kollektiven Gesinnungsbewegung, sondern in der Gewissensentscheidung des Einzelnen. Sie nimmt immer in Kauf, für die Folgen dieser Entscheidung in Haftung oder – im schlimmsten Fall – in Haft genommen zu werden.
Dies ist der eklatante Unterschied zwischen den heutigen Freunden des zivilen Ungehorsams und der Tradition, derer sie sich bemächtigen: Illoyalität muss glaubhaft machen, dass der Staat, dem die Gefolgschaft verweigert wird, zumindest in Teilen ein Unrechtsstaat ist. Das liegt auf der Hand, wenn es um Sklaverei geht, die nach übereinstimmendem Urteil von Recht und Vernunft den Menschenrechten und der Menschenwürde widerspricht. …
Diejenigen, die zivilen Ungehorsam üben, müssen eine klare Begrenzung ihrer Aktionen auf offenkundig ungerechte Strukturen in Staat und Gesellschaft beachten. Zwar darf auch in einer Demokratie die Mehrheit die Minderheit nicht terrorisieren. Aber genauso wenig darf eine Minderheit sich auf übergeordnete Ziele berufen und der demokratisch zur Macht gekommenen Mehrheit eines Rechtsstaates nach Gutdünken Treue verweigern. … Nicht zuletzt lebt die neue Empörungsbewegung ihrerseits von großem Loyalitätsdruck innerhalb der Protestgruppe. Während der Regierung und dem Staat – zumindest rhetorisch – die Gefolgschaft aufgekündigt wird, willigen die Protestanten in einer Art Tauschhandlung in die Zugehörigkeit zu einem neuen Stamm ein: XR, Querdenken 711 oder wie sie alle heißen. Sie dünken sich aufmüpfig und unterwerfen sich treu dem neuen Gruppenzwang.
Es liegt auf der Hand, dass die Bedingungen zum zivilen Widerstand, auf den etwa XR oder Pegida sich berufen wollen, heute nicht gegeben sind. Die Regierungen der demokratischen Staaten haben den Klimawandel nicht zu verantworten, während frühere Regierungen sehr wohl für die Sklaverei oder den Vietnamkrieg verantwortlich waren. Das ist keine Nebensächlichkeit. Der Klimawandel, so bedrohlich er ist, ist eine hochriskante Nebenfolge des technischen Fortschritts, keine böse Tat von Staaten oder Firmen. Und die Staaten versuchen – wie unzureichend auch immer – seit dem Kyoto-Protokoll von 1997 dem Klimawandel zu Leibe zu rücken. Dieses politische Handeln lässt sich als halbherzig oder attentistisch kritisieren. Aber es lässt sich beim besten Willen nicht als Ausdruck eines Unrechtsregimes qualifizieren und als Berechtigung verwenden, dagegen mit zivilem Widerstand vorzugehen. …
Es ist … kein Zufall, dass XR sowohl die Verbrechen des Hitler-Regimes bagatellisiert als zugleich den eigenen Widerstand unter Berufung auf die Tradition des Antifaschismus heroisiert. Damit wird gerade der fundamentale Unterschied zwischen dem moralischen Gewissensgebot und dem willkürlichen Tugendterror nivelliert. Dafür ist zugleich erforderlich, den Klimawandel als absichtsvolle, von Menschen gewollte Tat – wie den Genozid der Nazis – zu verfälschen, anstatt ihn als Nebenfolge des menschlichen Fortschritts nüchtern in Blick zu nehmen. Als lebten wir heute in einem auch nur annähernd vergleichbaren Unrechtsstaat. Als wäre der bürokratisch geplante Genozid der Nazis mit dem, wenn es denn so käme, Verschwinden der Menschheit durch Treibhausgase zu vergleichen.
Ähnliches ließe sich gewiss auch über die Corona-Demonstrationen des Jahres 2020 sagen, die so taten, als hätte sich Deutschland unter der Knute der Virologen zu einer autoritären Diktatur gemausert, in der die Freiheit des Einzelnen keinen Stich mehr machen dürfe. Allein die Möglichkeit großer Demonstrationen, im Zweifel mithilfe der Gerichte durchgesetzt, beweisen, dass der Rechtsstaat funktioniert.
Auszug aus Rainer Hanks Die Loyalitätsfalle Warum wir dem Ruf der Horde widerstehen müssen. Erschien 2021 im Penguin Verlag, 208 Seiten, 18,– Euro
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