Ein Gespräch mit Sandra Navidi über ihr aktuelles Buch und die Gefahren von Fake News für die Demokratie
Liebe Frau Navidi, Sie sind als ausgewiesene Finanzexpertin, Juristin und Unternehmensberaterin unterwegs. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Die DNA der USA zu schreiben, das kürzlich für den DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSBUCHPREIS 2023 nominiert wurde?
Es war ein wenig wie eine Evolution: In meinem ersten Buch Super-hubs ging es um meine Erfahrungen und Beobachtungen, wie Netzwerke „die Welt regieren“ – speziell in der Finanzwelt. Das zweite Buch beschäftigte sich mit Digitalisierung. Die Wirtschaft investiert immer mehr Geld in Digitalisierung und KI. Ich glaube, viele Entwicklungen sind schleichend und werden von uns kaum wahrgenommen. Das Future-Proof-Mindset sollte also ein praktisches Buch sein.
Und dann – weil Geopolitik immer wichtiger wird – kam im nächsten Schritt die USA als Land an die Reihe: wirtschaftliche Beurteilungen – Wirtschaft ist das Fundament unserer Gesellschaft – und, na ja, all die Missstände, die ich seit Jahren auch für meine Analysen verfolge und auf die ich auch in Medien und Talkshows aufmerksam mache. Nun habe ich all diese Puzzleteile zusammengesetzt. Und ich muss Ihnen etwas ganz ehrlich sagen: Als ich all das noch einmal gelesen und niedergeschrieben habe, musste ich mich ab und zu kneifen und sagen: Okay, Sandra, mach lieber noch einmal einen Double Check, ob das wirklich so gesagt worden und so passiert ist. Vieles strapaziert unser Vorstellungsvermögen, da überholt die Fiktion die Realität. Wenn sich jemand so ein Drehbuch für einen Hollywoodfilm ausdenken und formulieren würde, würde man sagen, das sei zu unrealistisch.
Ja, heute verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, beide Sphären sind oftmals von gerade junden Leuten kaum noch voneinander zu unterscheiden. Wir haben kürzlich den Mob in Brasilien erlebt, der nach Trumpdrehbuch das Kongressgelände gestürmt hat. Werte wie Anstand, Respekt und Wahrheit gelten weltweit weniger. Viele dieserEntwicklungen haben Ihren Ursprung in den USA. Warum ist das so?
Ich glaube, die USA sind grundlegend durch den kollektiven Charakter ihrer Einwanderer geprägt. Sie waren ursprünglich gesellschaftlich am sozialen Rand stehende Außenseiter, Spinner, religiöse Minderheiten, die in ein neues Land ohne etablierte Strukturen gingen und aus dem Nichts etwas schaffen wollten. Wenn man einmal mit dem Auto durch die USA gereist ist – durch Nevada, Arizona, Kalifornien –, dann fragt man sich, wie die Leute das geschafft haben. Eine Wahnsinnsleistung! Um in Amerika zu bestehen, musste man Vorstellungskraft und die Eigenschaft mitbringen, an Unmögliches zu glauben. Schon als Teenager sind mir Denkgrenzen in Deutschland aufgefallen – als Folge des Krieges war eher Anpassung als das Hervorstechen Einzelner gewünscht. In Amerika hingegen herrschte der Individualismus vor.
Es ist also kein Zufall, dass das Silicon Valley mit seinen unglaublichen Erfindungen in Amerika liegt, weil es dort keine intellektuellen Denkgrenzen gibt. Dort gibt es im positiven Sinne wahnsinnig viel Schöpferkraft. Im Negativen kann das allerdings gesellschaftliche Strukturen zerstören.
Das stimmt. Gute Beispiele sind auch mediale Entwicklungen, die die Gesellschaft in den USA prägen: Das Fernsehen, das den Menschen oftmals Realität vorgaukelt, wo gar keine Wirklichkeit dahintersteckt.
Das Verschwimmen von Fiktion und Realität kommt federführend aus Amerika und vor allen Dingen auch aus den Medien. Das fing vor Jahrzehnten in Hollywood an. Hollywood hat schon nach dem Krieg mit sehr echt wirkenden Kulissen und schauspielerischen Leistung ein Weltpublikum überzeugt und mit Soft Power ein positives Image für die USA geschaffen. Später kam das Silicon Valley hinzu.
Ein weiteres Beispiel ist die plastische Chirurgie. Kim Kardashian, Du magst nicht, wie du aussiehst? Kein Problem! Neue Nase, andere Haare, Fingernägel, Augen, Wimpern, Fettabsaugen, was auch immer. Und dazu passt der übermäßige Konsum von Psychopharmaka in den USA. Mit anderen Worten: Da kommen sehr viele Mosaiksteinchen zusammen, mit denen sich jeder seine eigene Realität schaffen kann. Zum Teil mag es befriedigend sein, einfach machen zu können, was man will. Auf der anderen Seite verschwinden eben die Grenzen der Realität. Es hat eine regelrechte Kardashianisierung der Kultur stattgefunden. Wie kommt es, dass in Social Media so viele genau so aussehen wie Kim Kardashian? Wie sind Veränderungen bis hin zur Fiktion möglich?
Eine Realität ist Donald Trump, der leider keine Fiktion ist. Trump hat, solange es ihn gibt, schamlos dreisteste Lügen aufgetischt. Das gipfelt darin, dass heute achtzig Prozent der Republikaner:innen glauben, dass Trump die Wahl gewonnen hat und nicht Präsident Biden. Sind Fake News Trumps Erfolgsrezept, und was sind seine Methoden?
Donald Trump ist Teil einer Generation, die die Anfänge dieses Verschwimmens früh mitbekommen hat. Die Republikaner haben schon vor Jahrzehnten postuliert, es gäbe keine wirklich objektive Wahrheit. Donald Trump hat das kultiviert und hat fünfzehn Jahre Reality TV gemacht, was ein nicht zu unterschätzender Faktor seines Erfolges ist. Er hat den erfolgreichen Geschäftsmann gespielt – das war er nicht wirklich.
Es gab tatsächlich ein Drehbuch, wie er sich zu verhalten habe. Trump ist telegen, hat Charme. Er hat die Menschen von seiner Version der Realität überzeugt. Bei Donald Trump war von Anfang an klar, welche seiner Aussagen Lügen sind. Viele wussten genau, wie viel er geerbt und dass er mit der Mafia zusammengearbeitet hat, wann er lügt und wann nicht. Das Schockierende ist: Wieso ist er trotzdem gewählt worden? – Und jetzt kommen immer mehr „Mini-Trumps“ zum Vorschein. Beispielsweise Herschel Walker, ein Afroamerikaner, ehemaliger Footballplayer mit viel Fernsehpräsenz, hat sich dort als Moralapostel aufgespielt. Er wurde von Trump in Georgia bei den Midterms unterstützt. Seine Kampagne war allerdings von Skandalen und massiven Anschuldigungen gezeichnet. Es hat sich nach und nach herausgestellt, dass er mehrere uneheliche Kinder hat, über die er die Öffentlichkeit belogen hat. Er hat seinen Schulabschluss erfunden, ebenso sein Studium an einer Militärakademie.
Der neueste Fall – und davon gibt es viele Beispiele bei den Republikanern – ist George Santos, der seine komplette Identität erfunden hat. Trotz allem ist dieser Mann als Abgeordneter vereidigt worden.
Und es gibt über zwei Dutzend Abgeordnete, die QAnon-Verschwörungstheorien, die an den Haaren herbeigezogen sind, im Kongress kundtun und damit bei den Wähler:innen punkten. Wir sehen eine systematische Unterwanderung der Wahrheit.
Welche Rolle spielt überhaupt der Journalismus bei der Wahrheitsfindung? Immerhin stützt dieser sich auf vertrauenswürdige Quellen und arbeitet nach einem strengen Qualitätsprotokoll.
Traditionellen, ehrlichen und insbesondere investigativen Journalismus gibt es noch. Aber er ist teuer, und die Geschäftsmodelle verändern sich. Mit dem Internet haben sich immer mehr Leute aus dem politischen Spektrum hervorgetan: Ein Beispiel ist Rupert Murdoch, dem Fox News, das Wall Street Journal und die New York Post gehören. Tucker Carlson, von Fox News verbreitet jeden Abend vor Millionen von Zuschauern dreisteste Lügen. Dagegen wurde geklagt. Der Klage wurde nicht stattgegeben. Jeder normale Mensch, der Tucker Carlson guckt, wisse ja schließlich, dass er übertreibe und dass man ihn nicht ernst nehmen dürfe. Sie sehen: Sogar von der Justiz gibt eine gewisse Bereitschaft, diese Grenzen nivellieren zu lassen.
Und welche Rolle spielen das Silicon Valley und der Trend von der realen Welt hin in eine virtuelle Dimension?
Es ist das gleiche Phänomen: Ich kann mir die Realität machen, wie ich will – mit Werkzeugen, die ich umsonst an der Hand habe. Ich gehe auf Plattformen, in denen ich meine Weltsicht gespiegelt bekomme und mich in meine Echokammer begebe. Elon Musk hat frech propagiert: Wer weiß, vielleicht leben wir in einer Simulation und gar nicht in der richtigen Welt. Vielleicht ist alles gar nicht echt. Vielleicht ist es nur unsere Vorstellung und nicht echt.
Sie schreiben über den ausgeträumten amerikanischen Traum, über Kulturkämpfe und die freindliche Übernahme der Demokratie. Ihr erster Satz im Buch lautet: Ich liebe Amerika. Nach der Lektüre stellt sich mir die Frage, ob Ihnen die Liebe zu Ihrer Wahlheimat nicht zunehmend schwerfällt.
Ich lebe jetzt seit über zwei Jahrzehnten in den USA und fühle mich zugehörig. Amerika ist in weiten Teilen immer noch toll. Die große Mehrheit der Menschen ist interessant und fühlt sich liberalen Werten verpflichtet. Aber diese eine kleine Minderheit hat es verstanden, bestimmte Mechanismen und Stellschrauben der Macht zu einem gewissen Grad zu kapern. Es ist ein Putsch in Zeitlupe, an dem die Republikaner kontinuierlich weiterarbeiten. – Wir haben nach der Wahl des Sprechers des Kongresses, Kevin McCarthy, gesehen: Das Erste, was er gemacht
hat, war, Donald Trump zu danken und zu loben. Unterschätzen Sie Trumps Einfluss nicht! Die Republikaner sind keine Partei mehr. Sie haben kein Parteiprogramm. Sie frönen nur ihrem Anführer und betreiben Personenkult.
Die radikalen Kräfte sind nicht zu unterschätzen. Die ultrarechte, privat finanzierte Federalist Society hat über Jahrzehnte ganz strategisch Richter für wichtige Positionen kultiviert, insbesondere den Supreme Court. Man darf diese Entwicklungen nicht unterschätzen. Wir erleben diesen Putsch in Zeitlupe nicht nur in den USA, sondern auch in Brasilien und in einigen Ländern Europas – auch angefeuert durch Trollfabriken aus Russland. Wenn wir uns jetzt zurücklehnen, die Augen schließen und nur auf das Gute hoffen, dann können wir eine böse Überraschung erleben.
Frau Navidi, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und diese spannenden Einblicke und Aussichten.
Das Gespräch führte ich für die Passion #12.
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