Ein Gespräch mit Bronzemedaillengewinner Ali Laçin

Ali, Du hast einmal gesagt, dass früher dein größter Wunsch war, normal zu sein und nicht aufzufallen. Diesen Sommer in Tokio ist dir beides – in Kombination –
nicht gelungen. Herzlichen Glückwunsch zur Bronzemedaille bei den Paralympics im 200-Meter-Rennen der Doppelt Oberschenkelamputierten!

Danke. (lacht)

Eine solche Leistung abzurufen, ist für jeden Sportler und jede Sportlerin eine Herausforderung. Wie liefen deine Vorbereitungen auf dieses Großereignis?

Ali Laçin, 33, ist ein deutscher paralympischer Athlet. Er gewann die Bronzemedaille im 200-Meter-T61-Lauf der Männer bei den Sommer-Paralympics 2020 in Tokio, Japan.
Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage

Eigentlich sehr gut, abgesehen von Ende April, als ich im Training gestürzt bin und mir den Arm gebrochen habe. Ich musste operiert werden und hatte große Angst, dass ich doch nicht nach Tokio fliegen kann. Das hatte mich extrem zurückgeworfen. Ein Weitsprung mit sechs Meter siebzig oder die guten Zeiten, die ich vorher gesprintet bin, waren nach acht Wochen Pause schwierig zu erreichen. Ich konnte nicht mehr die Leistungen abrufen, die ich eigentlich hätte bringen müssen. Aber dennoch bin ich nicht mit leeren Händen nach Hause gekommen. Das motiviert mich umso mehr für die nächsten Jahre und natürlich für Paris. Ich war einerseits sehr, sehr glücklich über die Medaille, aber auf der anderen Seite auch sehr enttäuscht von mir. Es hätte bei dem Lauf und meinen bisherigen Leistungen Silber sein müssen. Aber, naja, wir haben ja noch ein bisschen Zeit bis zur Sommer-Paralympics 2024 in Paris – da muss ich auf jeden Fall zwei Goldmedaillen holen. 

Über die nächsten Jahre werden wir noch ein paar EMs und WMs haben, im Jahr 2022 die WM in Kobe in Japan und im darauffolgenden Jahr 2023 die EM in Birmingham.

Aber dein großes Ziel ist, eine oder zwei Goldmedaillen aus Paris mitzubringen?

Genau. (schmunzelt) Wenn schon, dann Paralympics-Sieger!

Erzähl mal, wie du dich als Para- Leichtathlet auf Höchstleistungen fokussierst.

Fokus gibt es leider nicht zu einhundert Prozent bei uns Para-Sportler:innen. In erster Linie muss jeder Para-Leichtathlet arbeiten, um sich und seine Familie zu finanzieren. Deswegen mache ich zum Beispiel einen Teilzeit-Job und kann nur vor oder nach der Arbeit zum Training fahren. Das ist nicht ohne und sehr anspruchsvoll, sich noch einmal zu teilen.

Wenn man aber ein Ziel vor Augen hat, wirklich daran glaubt und jahrelang davon geträumt hat, dann fällt es einem auch nicht schwer, sich darauf so einzustellen oder sich so extrem zu fokussieren, dass am Ende auch etwas daraus wird.

Mein Ziel war, Paralympics-Teilnehmer zu sein. Dafür habe ich viel getan, jahrelang geschuftet und trainiert. 2016 hatte ich die Nominierung für Rio noch nicht geschafft, da war der Traum geplatzt. 

Daraufhin hatte ich auch mit dem Leistungssport abgeschlossen. 2018 kam ich dann wieder, als mich mein Laufbahnberater vom Olympiastützpunkt für
die EM in Berlin zurückholte. Dann kamen die ersten Erfolge: Ich wurde Vize-Europameister und belegte 2019 in Dubai Platz drei auf 200 Metern bei der WM.

Ein Paar Blades oder Federn kosten 15.000 bis 20.000 Euro.Wie wichtig ist die
Qualität der Ausrüstung für den Paralympics-Sieg?

Das ist natürlich das A und O. In der Formel eins ist es der Rennwagen, bei uns sind es die Federn. Je besser man ausgestattet ist, desto schneller ist man. Natürlich darf man keine Blades nutzen, die speziell für einen angefertigt wurden: Das wäre technisches Doping. Es können nur Blades genutzt werden, die jedem Athleten zur Verfügung stehen.Wichtiger sind die Orthopädietechniker, die die Statik anpassen, und die Trainer, die das Trainingsprogramm entwickeln. Du musst lernen, mit der Geschwindigkeit umzugehen. Das passiert nicht von heute auf morgen. Je schneller man wird, desto mehr Respekt hat man vor dem Laufen.

Wenn man bei diesem Speed einmal stürzt, passieren sehr unschöne Dinge: bei mir 2013 Schlüsselbeinbruch und  2021 Radiusköpfchenfraktur.Und du musst lernen, mit der Feder laufen zu können, die Geschwindigkeit zu kontrollieren, die richtige Federstärke für dich zu finden, und die Statik muss passen.

Wie bremst man eigentlich mit den Federn?

Es gibt keine Bremse! Man beschleunigt einfach nicht mehr und lässt es laufen. 200 Meter werden für uns am Ende 300 Meter, weil wir bei der Geschwindigkeit noch weiterlaufen müssen. 

Du hast deine Unterschenkel schon sehr früh verloren. Mit was für Prothesen bist du anfangs zurechtgekommen?

Meine ersten Schritte habe ich tatsächlich mit Prothesen gemacht. Das waren kleine einfache Baby-Prothesen ohne Kniegelenke. Sie waren wie Schuhe.

Ich bin damit komplett steif gelaufen – im Grunde so wie heute mit den Sportprothesen. Ich hatte zwar einen Rollstuhl, habe mich aber die meiste Zeit auf Prothesen fortbewegt. Das wollte ich so, und das wollten auch meine Eltern. Und das war auch gut so.

Würdest du sagen, dass du trotz deines Handicaps normal aufgewachsen bist?

Während der Pubertät saß ich fast zwei Jahre lang im Rollstuhl. Als ich aus dieser dunklen Zeit heraus war, bin ich wieder auf Prothesen umgestiegen. Seit 2004 habe ich keinen Rollstuhl mehr. Für mich ist es unheimlich wichtig, unabhängig unterwegs zu sein – auch wenn ich nicht perfekt laufen kann.

Wie kommt man eigentlich auf die Idee, ohne Beine Sprinter zu werden? Das ist nicht gerade naheliegend!

Aber genau das ist der Reiz. Jahrelang konnte ich nicht rennen, ich konnte nicht springen oder mich einfach nur mal schnell fortbewegen.Was macht man? Man sucht sich das aus, was man nie machen konnte. Ich sah, dass es Möglichkeiten gäbe. Ich wollte genau diese Möglichkeiten umsetzen. Dieser Reiz war extrem. 

Für mich waren die ersten schnellen Schritte, das erste schnellere Laufen so unvergesslich, weil ich das Gefühl vorher einfach nicht kannte. Einfach mal schnell zu sein, Gegenwind zu spüren oder einfach frei laufen zu können – das war für mich wunderschön. Ja, ich habe mich für die richtige Sportart entschieden!

Ist Sport deine Antwort auf schwierige Phasen?

  Früher habe ich Hallenfußball gespielt. Als Torwart hatte ich genau die richtige Größe und hab mich – ohne Prothesen – ins Tor gestellt. Ich war ziemlich gut, weil ich klein war und gute Reflexe hatte. Das hat mich aus mancher Krise herausgeholt.

Selbstbewusstsein kam aber durch die Leichtathletik und die professionelle Karriere. Das hat meine Persönlichkeit sehr gestärkt. Ich konnte mich plötzlich in der Öffentlichkeit mit und ohne Prothesen zeigen. Zuvor bin ich immer mit langen Hosen unterwegs gewesen. Diejenigen, die mich nicht kannten und sahen, haben wahrscheinlich gedacht, ich hätte eine Verletzung oder sonst irgendetwas. Durch das Sprinten musste ich mich mit den Federn zeigen.

Früher waren es die Blicke voller Mitleid, die ich ertragen musste. Jetzt genieße ich die Blicke voller Anerkennung. Das habe ich dem Sport zu verdanken. Früher habe ich mich geschämt, heute bin ich einfach stolz, halb Roboter, halb Mensch zu sein.

Heute bist du eine Persönlichkeit des Para-Sports und Vorbild für andere Behinderte. Was bedeutet dir das?

Das ist meine Motivation! Ich kannte zu meiner Zeit keinen weiteren Betroffenen, der genau das hatte wie ich. Heutzutage gibt es das Internet, um sich zu finden. Ich möchte so viele Menschen wie möglich erreichen, sie motivieren und ihnen sagen, dass das Leben weitergeht – egal was du hast, egal, wie schlimm es ist. Wenn ich als jemand, der keine Beine hat, Sprinter sein kann, dann kannst auch du alles sein.

Wenn ich dann von Menschen Feedback bekomme, die ich motivieren konnte, dann ziehe ich daraus weiderum Kraft für mich.

Als du anfangen wolltest zu laufen, hast du von der Prothesen-Sprinterin Vanessa Low, die aus Rio de Janeiro Gold und Silber mit nach Hause brachte, ein Paar gebrauchte Federn bekommen. In der selben Situation bist du jetzt auch: Du kannst auch andere motivieren und ihnen helfen zu starten.

Richtig! Alle meine Federn habe ich noch. Es gibt sicherlich Menschen, die auch diesen Sport machen wollen, aber nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, sich solche Blades zu kaufen. Hey, kommt her! Ich habe einige Federn beiseite gelegt. Die sind zwar gebraucht, aber in einem guten Zustand. Damit kann man mindestens trainieren und den ersten Schritt machen.

Ich hatte damals wirklich Glück gehabt, dass Vanessa Low mir ihre Federn zur Verfügung gestellt hat. Ich bin damit zwar gestürzt und habe mir das Schlüsselbein gebrochen, weil die Federn für mein Gewicht viel zu weich waren. Aber trotzdem fand ich das großartig! Vanessa Low hat mich für diesen Sport gewinnen können.

Woran liegt es, dass die Paralympics im Medienzirkus immer noch so eine kleine Nebenrolle spielen?

Ich weiß es nicht. Es gibt kaum Interesse seitens der Medien, obwohl ich von vielen höre, dass die Spiele zum Teil interessanter als die Olympiade sind: Viele unterschiedliche Menschen mit diversen Behinderungen erbringen so erstaunliche Leistungen – oft auch in den Königsdisziplinen. Para-Sport ist einfach kein Fußball, der bei jede:m und auch in den Medien im Fokus steht.

Ali, ich danke dir für deine Zeit und dieses Gespräch!