Ein exklusives Essay von Samira El Ouassil für die Passion #10

Samira El Ouassil, Fotografie: Marie Staggat

Das Magazin, das Sie soeben in Ihren Händen halten, bleibt im Verlauf seiner Lektüre unverändert – aber Sie werden sich verändern, denn die hier enthaltenen Deutungsangebote besitzen transformative Kräfte. Es handelt sich um Erzählungen über Ihre Wirklichkeit, um Narrative zur Einordnung des Weltgeschehens. Sie bestimmen den Kern unseres Wesens, das – kognitiv bedingt und von uns unbeeinflussbar – in Kausalitäten und Chronologien denkt. Durch Erzählungen wird das konstruiert, was wir als unser Selbst wahrnehmen, sie strukturieren unsere Wahrnehmung, sie statten sie mit Sinn aus. Eine Antwort auf die Frage, wer wir sind, könnte lauten: Wir sind Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen, über uns und unsere Welt.

Wenn es stimmt, dass „das Leben nur rückwärts verstanden werden kann, aber vorwärts gelebt werden muss“, wie der Philosoph Søren Kierkegaard meinte, dann gilt: Je besser wir „rückwärts verstehen“, desto besser werden wir leben können. Der Schlüssel zum „Vorwärtsleben“ liegt darin, Narrative für die Vorstellung einer zukünftigen Welt zu schaffen. Aber wie können wir mithilfe einer wirkmächtigen Erzählung unsere Zukunft gestalten, wenn die Herausforderungen der Zukunft unnarrativierbare Monster sind, die mit keiner Geschichte eingefangen werden können?

Die Klimakrise ist solch ein Ungetüm, das uns an die Grenzen unserer geistigen Fähigkeiten bringt. Aus narrativer Sicht ein Biest, das intellektuell von uns nicht gezähmt werden kann. Es existieren in ihr keine klaren Antagonisten, keine leicht erzählbaren Konflikte, keine eindeutigen geografischen Schauplätze. Im Kampf gegen die Erderwärmung liegt der tiefste Punkt einer möglichen Heldenreise irgendwo in der Zukunft. Zudem handelt es sich um eine Herausforderung, die in Zeitlupe stattfindet. Es ist ein Schwertkampf gegen einen vielköpfigen Drachen, den wir als Gesellschaft seit Jahrzehnten unbemerkt ausfechten, während wir die Kreatur gleichzeitig täglich füttern. Eine Rettung erreichen wir nur, indem wir verhindern, dass der tiefste Punkt unserer Heldenreise, die Katastrophe, überhaupt erst eintritt. Das jedoch ist nicht besonders heroisch, denn wie wir spätestens seit der Corona-Krise wissen: There is no glory in prevention. Das gilt auch für die Klimakrise. Diese ruhmlose Prävention bedarf einer aktiven, genauer gesagt, proaktiven transformatorischen Leistung unsererseits. 

Wir müssen uns selbst wandeln, bevor uns die Herausforderungen unserer Umwelt dazu zwingen, ohne dass wir auf Ruhm hoffen dürfen. Zugleich wirkt die präventive Aktion, die allein etwas verhindern, nie jedoch etwas grundsätzlich Neues hervorbringen will, wie eine schlechte Wahl. In diesem Handlungslimbus eines Helden, der schon weiß, was ihn im zweiten Akt erwartet, der den Ruf zum Abenteuer jedoch noch gar nicht angenommen hat (vielleicht auch, weil er ihn tatsächlich niemals annehmen möchte), befinden wir uns gegenwärtig. Wir, die Gesellschaft eines ganzen Planeten. Leider, so muss man sagen, haben wir noch nie eine Klimakrise erlebt. Deshalb hatten wir auch noch nie die Möglichkeit, an ihr zu scheitern, um schließlich klüger und stärker aus ihr hervorzugehen.

Ein weiteres erzählerisches Dilemma liegt darin, dass im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel mit enormem Aufwand bestenfalls unser heutiger Status quo bewahrt werden soll. Für einen Teil der Gesellschaft liegt die Hoffnung einer weiterhin bewohnbaren Welt nicht in ferner Zukunft, sondern im Erhalt des gegenwärtigen Komforts. Die von manchen ersehnte Utopie ist, dass sich nichts verändern muss. Die Utopie ist offenbar eine Verzählung.

„Der Mensch ist eine Maschine, die ihre Lebenswelt kollektiv erfindet“, sagt der Psychologe Wolfgang Prinz. Also müsste es doch auch möglich sein, dass wir diese entfinden und neu bauen. Nur wie? Vielleicht lassen sich diese Fragen am einfachsten beantworten, wenn man vom Ende her denkt, und zwar ausnahmsweise mal optimistisch. Wie sähe ein mögliches Happy End aus? Als Held:innen unserer eigenen Geschichte müssten wir etwas in uns entdecken, das uns in Handlung versetzt und vor uns eine neue Wirklichkeit entfaltet, die immer schon in uns steckte. Der narrative Trick muss sein, nicht eine Welt, die anders sein könnte, als wahrhaftige Utopie für unser Happy End zu imaginieren, sondern zu verstehen, dass die jetzige Welt ohne eine tiefgreifende Veränderung ein Ort ohne Zukunft ist.

Klingt dystopisch? Nun, auch dieser Text hier ist nur eine angebotene Erzählung über unsere Zukunftsnarrative, die spannende Frage ist jedoch: Hat die Lektüre Sie verändert?