Miku, du hast Literatur und Medienwissenschaft in Berlin studiert – unter anderem bei Daniel Kehlmann und Roger Willemsen. Wie lange ist das her und was hast du aus dem Studium mitgenommen?
Ich habe bis 2017 studiert und sehr viel mitgenommen. Ich glaube, das Wichtigste war, viel zu lesen und mich in das Studium hineinzuversetzen. Was ich zu Beginn nicht wusste, war, dass ich ein bisschen anders als die Mitstudierenden gearbeitet habe: Das war Raubbau an den Texten. Ich habe die Texte schon auch analysiert, aber mehr aus so einer sehr handwerklichen Perspektive. Dafür war das Studium sehr gut – viel Zeit zu haben, zu lesen und sich mit den Texten auseinanderzusetzen.
Und Medienphilosophie war eh einfach spannend – so für alles und für jeden Tag. Darüber hinaus hat mir die Lehre den Freiraum gegeben, selber zu schreiben. Nicht für irgendjemanden, der sich das vorlegen ließ, sondern für mich – einfach in den Freiräumen zwischen dem Lesen. So hat sich herauskristallisiert, was ich machen will.
Machen einem so Größen wie Kehlmann und Willemsen nicht Angst?
Ich bin da sehr bewusst reingewachsen. So etwas ist nicht an jeder Uni möglich. Ich erinnere mich, dass Roger Willemsen, just als ich mich an der Humboldt-Universität eingeschrieben hatte, die Ehrenprofessur bekam. Ich habe ihn damals schon sehr verehrt und habe im Sommer 2015 sein letztes Seminar, in dem es um Kurzgeschichten ging, besucht.
Sicher, das war sehr aufregend und anspruchsvoll. Es begann mit so einer schönen Geschichte über‘s Scheitern: Ich habe meinen Text eingereicht und war so nervös, dass ich tatsächlich in mich zusammengefallen bin, als der Text besprochen wurde. Einfach nur, weil es so schwer war, dem Druck standzuhalten. Roger Willemsen und zwanzig Masterand:innen der Literaturwissenschaft – das härteste Publikum, das ich mir vorstellen konnte. Daraus hat sich ein sehr guter Kontakt mit Willemsen ergeben. Er war eben, das kann ich als seine Studentin sagen, genau so, wie man sich ihn vorgestellt hat. unglaublich nett, immer auf Augenhöhe, sehr klug und ein Mensch, der immer seine Thesen zur Debatte gestellt hat. Es ging nie darum, sich nur zu inszenieren.
Und bei Kehlmann in New York ging es nicht ums Schreiben. Er gab ein literaturwissenschaftliches Seminar. Wir haben Heimito von Doderer zusammen gelesen. Sehr spannend zuzuhören, wie Kehlmann liest und wie er auf andere Texte schaut.
Dein Studium war ja nicht ganz erfolglos. Du warst 2018 mit Fellwechsel auf der Shortlist des Blogbuster-Literaturpreises. Das Buch Kintsugi gelangte auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 und brachte dir den aspekte-Literaturpreis sowie den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ein. Worum ging‘s in Kintsugi?
Der Roman, der entgegen der Erwartung des japanischen Titels in Brandenburg spielt, genauer in der Uckermark, handelt von der Zusammenkunft von vier Menschen. Vier Leute, die sich dort an einem Wochenende in einem Haus treffen. Es geht um ein Paar, Max und Reik, das seit zwanzig Jahren zusammen ist. Sie verspüren keine Lust auf eine große Party und haben nur ihren ältesten Freund Tonio und dessen Tochter Rega, die sie ein bisschen mit großgezogen haben, in ihr Wochenendhaus in der Uckermark
eingeladen. Von diesem Wochenende handelt das Buch.
Und was passiert da?
Das kann man dann nachlesen. Nur so viel: Sie planen ein ruhiges Wochenende. Doch ruhig bleibt nur der See.
Okay, okay. Aber was ist Kintsugi und warum heißt dein Buch so?
Kintsugi ist ein japanisches Kunsthandwerk, das es
schon seit dem Mittelalter gibt. Kint bedeutet Gold, Sugi bedeutet zusammensetzen. Und hinter diesem Handwerk verbirgt sich also eine Technik, die genutzt wurde, um das wertvolle Teegeschirr zu reparieren, wenn es zerbrochen war. Dafür wird aus dem Harz der japanischen Kiefern ein Lack gewonnen und damit dann Keramik repariert. Das Besondere ist, dass nicht versucht wird, die Risse zu verstecken, sondern im Gegenteil, sie werden mit Goldstaub betont. So bilden sich Adern auf dem reparierten Porzellan, und man kann genau erkennen, wo die Risse waren – wo sozusagen die Verletzungen passiert sind. Die Ästhetik, die dahinter steht, ist eine, die sich bis in die buddhistische Zen-Philosophie zurückverfolgen lässt und die im Prinzip bedeutet, dass Schönheit nicht ewige Jugend und Perfektion bedeutet, sondern heißt, dass man an etwas oder jemandem sehen kann, dass die Zeit vergeht.
Also stehen deine Protago-
nist:innen vor einem grossen Scherbenhaufen?
Ja. Der Scherbenhaufen kann ein Trauma, eine Trennung oder ein Trauerfall sein. Wie geht man damit um, wenn was passiert ist, wenn ein Bruch passiert ist, von dem man dachte, der passiert nie oder mit dem man nicht gerechnet hat. Mir ist irgendwann diese japanische Reparaturtechnik aufgefallen, und ich dachte, das ist eine gelungene Metapher: So perfekt für einen produktiven oder konstruktiven Umgang mit einer Situation, die eigentlich hoch-dramatisch ist. Sie trägt eine Akzeptanz von Veränderungen und von der Überwindung von Traumata in sich und auch eine Akzeptanz dessen, dass Dinge nicht immer so bleiben, wie sie einmal gewesen sind. Dinge unterliegen stetiger Veränderung.
Hinterher kann etwas Wertvolleres in ihnen stecken, etwas sehr Schönes. Mein Gedanke war, dass sich die Geschichte um die vier Menschen so anfühlen sollte. Japan kommt in dem Buch zwar vor, aber der Roman spielt in der Uckermark an einem See. Die Idee hatte sehr schnell etwas Ästhetisches.
Heute haben wir gesellschaftliche Scherbenhaufen mehr als genug. Da braucht man sich nur umzuschauen oder eine Zeitung aufzuschlagen. Könnte Kintsugi eine Philosophie sein, die man sich aneignet, um mit den gesellschaftlichen Problemen anders umzugehen? Die Scherbenhaufen irgendwie zu veredeln?
Ja, ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht darum geht, den Scherbenhaufen zu veredeln, sondern stattdessen zu schauen, was habe ich jetzt hier an Teilen, was ist passiert und wie setze ich das wieder zusammen. Ich war in Tokio in einer Werkstatt einer Keramik-Meisterin, die früher selbst Keramiken gefertigt hat, aber seit 20 Jahren diese nur noch repariert. Sie betreibt in einem kleinen Ortsteil von Tokio, der ein bisschen außerhalb liegt, eine Werkstatt. In den Regalen stapeln sich kaputte Keramikgegenstände aus der ganzen Stadt und aus dem ganzen Land. Sie zeigte mir, wie sehr präzise sie die Teile wieder zusammengesetzt – immer mit den Linien, mit Gold oder mit Silber. Sie hat aber auch Stücke, wo Teile fehlen. Sie sagte, dass es darum gehe, immer etwas daraus zu machen. Also im Zweifelsfall etwas Neues. So arbeitete sie große goldene Felder und Glasperlen dort ein, wo Lücken waren und Teile fehlten. Es geht also immer darum, mit dem zu arbeiten, was man hat. Wirklich konstruktiv zu schauen, was man gewinnen kann.
Diese Philosophie ist sicherlich grundsätzlich eine Idee, die sich lohnt, aber es ist sicherlich schwer, sie immer aufrechtzuerhalten. Aber es ist etwas, wo man vielleicht versuchen kann, immer mal wieder hin zurückzufinden. Bei allem Weltschmerz und aller Verzweiflung über alles.
Ist Kintsugi – die Entdeckung, dass Schönheit nicht in der Perfektion zu finden ist, sondern im guten Umgang mit den Brüchen und Versehrtheiten – nicht auch geeignet, persönliche Niederlagen zu meistern?
Ich habe einen Workshop bei der Keramik-Meisterin gemacht. Dort machten auch Traumapatient:innen Beschäftigungstherapien. Frauen, die vergewaltigt wurden und deren Leben auseinandergebrochen ist. Sie gehen dort hin – zwei Jahre lang – und reparieren eine zerbrochene Tasse. So eine Reparatur dauert sehr lange, wenn du die normale klassische Technik mit Lack anwendest. Es braucht ewig, bis alles trocken und fest ist. Sie kommen jede Woche zwei Stunden lang und feilen, kleben und reparieren. Vielen hilft das, über solche Erschütterungen hinwegzukommen.
Ob das jetzt für den eigenen Alltag sinnvoll ist oder für den Umgang mit weltpolitischen oder gesellschaftspolitischen Themen, entscheidet jede:r selbst. Vielleicht ist die Kleinschrittigkeit und der Versuch, nicht nur so das Schöne oder das Positive, sondern das wirklich Machbare zu sehen, das, wo man wirklich im Kleinen etwas verändern oder reparieren kann.
Persönliche Niederlagen, emotionale Risse und Narben formen eine:n und machen eine:n dadurch erst schön. Wenn eine Frau aussieht wie Claudia Schiffer, heißt das noch lange nicht, dass sie schön ist.
Ich glaube, dass in der eurozentrischen Wahrnehmung noch nicht akzeptiert wird, wenn man so denkt. Wir streben immer noch nach Perfektion. Die glatte Oberfläche ist schon immer noch ein Thema. Das ist grundsätzlich auch okay.
Es gibt einen Begriff in der Zen-Philosophie –Wabi-Sabi – bei dem der eine Teil die Wertigkeit dessen, was man auch nicht sehen kann, beschreibt: die Wertigkeit von Schatten zum Beispiel. Der andere Teil steht für die klassische Schönheit: die Schönheit von Patina, von Moos, das auf einem Stein wächst, von Staub, Rissen, Unregelmäßigkeiten und so weiter. Es gibt solch eine Ästhetik, aber ob sie in unserem kollektiven Bewusstsein stark verankert ist, das lohnt sich zu hinterfragen.
Und wenn wir das Äußere verlassen und auf unser Innerstes schauen?
Im Idealfall lernen wir aus Dingen, die uns passieren. Das Wort Scheitern finde ich ganz spannend. Es geht in meinem Roman um eine Beziehung von zwei schwulen Männern, die es geschafft haben, zwanzig Jahre lang in einer Welt zu leben, in der ihre Beziehung am Anfang noch in der Art, wie sie existiert hat, illegal war. Sie haben gutes Geld verdient, guten Sex miteinander gehabt und so als eine Art Familie in einem tollen Umfeld gelebt. Warum sollte man das als eine Geschichte des Scheiterns rückwärts lesen?
Miku, ich danke dir für deine Gedanken und dieses Gespräch.
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